Das Teufelsspiel
erwähnt kein Geheimnis«, merkte Rhyme an.
»Das steht in einem der Briefe, die ich zu Hause habe. Ich habe Ihnen diesen hier gezeigt, damit Sie wissen, dass Charles kein Dieb war.«
Rhyme runzelte die Stirn. »Aber der Diebstahl hat sich doch erst fünf Jahre später zugetragen. Wie kommst du darauf, Charles könnte durch diesen Brief entlastet werden?«
»Ich will darauf hinaus, dass er nicht wie ein Dieb klingt, verstehen Sie?«, sagte Geneva. »Das ist niemand, der einen Bildungsfonds für ehemalige Sklaven bestehlen würde.«
»Ein Beweis ist das nicht«, entgegnete Rhyme lakonisch.
»Doch, für mich schon.« Das Mädchen betrachtete den Brief ein weiteres Mal und strich ihn mit der Hand glatt.
»Was hat diese Dreifünftelsache zu bedeuten?«, fragte Sellitto.
Rhyme erinnerte sich dunkel, etwas darüber gehört zu haben, doch sobald eine Information sich als irrelevant für seine Arbeit als Kriminalist erwies, verdrängte er sie als nutzlosen Ballast. Er schüttelte den Kopf.
Geneva übernahm die Erklärung. »Es stammt aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Die Sitzverteilung im Kongress bemaß sich nach der Bevölkerungsgröße der einzelnen Staaten; dabei zählte ein Sklave nur drei Fünftel einer vollwertigen Person. Man könnte meinen, dahinter hätte eine üble Verschwörung der Konföderierten gesteckt, doch der Norden brachte diesen Vorschlag ein. Am liebsten hätte man dort die Sklaven gänzlich ausgeklammert, weil sie dem Süden zu mehr Kongressabgeordneten und Wahlmännern verhalfen. Der Süden hingegen wollte die Anzahl der Sklaven in voller Höhe geltend machen. Die Dreifünftelregel war ein Kompromiss.«
»Sie wurden eingerechnet, um Parlamentssitze zu erlangen, aber wählen durften sie nicht«, sagte Thom.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Geneva.
»Genau wie die Frauen, nebenbei bemerkt«, fügte Sachs hinzu.
Die Sozialgeschichte Amerikas interessierte Rhyme im Augenblick herzlich wenig. »Ich würde gern die anderen Briefe sehen. Und ich möchte, dass wir ein Exemplar dieser Zeitschrift ausfindig machen, Coloreds’ Weekly Illustrated. Welche Ausgabe?«
»Die vom 23. Juli 1868«, sagte Geneva. »Aber es war beileibe nicht einfach, sie aufzutreiben.«
»Ich tue mein Möglichstes«, sagte Mel Cooper. Dann hörte Rhyme, wie seine Finger mit hoher Geschwindigkeit über die Tastatur huschten.
Geneva schaute auf ihre abgenutzte Swatch. »Ich muss wirklich …«
»Hallo allerseits«, erklang die Stimme eines Mannes an der Tür, und Roland Bell betrat das Labor, bekleidet mit einem braunen Tweedsakko, einem blauen Hemd und Jeans. Der Detective stammte aus North Carolina, hatte dort bereits als Polizist gearbeitet und war vor einigen Jahren aus privaten Gründen nach New York gezogen. Er hatte braunes Haar, sanfte Augen und strahlte eine dermaßen große Gelassenheit aus, dass seine Großstadtkollegen bisweilen ganz ungeduldig wurden, wenn sie mit ihm zusammenarbeiteten. Rhyme hingegen hatte den Verdacht, dass Bells umsichtige Art weniger seiner Südstaatenherkunft zuzuschreiben war als vielmehr der Tatsache, dass er infolge seiner Aufgaben beim NYPD generell sehr akribisch vorging. Bells Spezialgebiet war die Abschirmung von Zeugen und anderen potenziellen Opfern. Dabei stand er keiner offiziellen Einheit der New Yorker Polizei vor, sondern einer Gruppe von Detectives, die sich intern »die Zeugenschutzengel« nannten.
»Roland, das ist Geneva Settle.«
»Hallo, junge Dame«, begrüßte er sie in gedehntem Tonfall und gab ihr die Hand.
»Ich brauche keinen Leibwächter«, verkündete sie mit fester Stimme.
»Keine Angst – ich werde dir nicht auf die Pelle rücken«, sagte Bell. »Ehrenwort, ich bleibe unsichtbar wie eine Zecke im hohen Gras.« Ein Blick zu Sellitto. »Also, wie ist die Lage?«
Der füllige Detective schilderte ihm die Einzelheiten des Falls und den bisherigen Stand der Ermittlungen. Bell runzelte weder die Stirn noch schüttelte er den Kopf, doch Rhyme konnte sehen, dass sein Blick starr wurde und dadurch seine Besorgnis verriet. Sobald Sellitto geendet hatte, setzte Bell wieder seine gutmütige Miene auf und stellte Geneva einige Fragen über sie und ihre Familie, um eine genauere Vorstellung davon zu erhalten, wie er den Personenschutz organisieren würde. Sie antwortete nur zögernd, als sei ihr die Sache nicht recht.
Als Bell schließlich fertig war, ließ Geneva ihrer Ungeduld freien Lauf. »Jetzt muss ich aber wirklich los. Könnte jemand mich nach Hause
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