Das Teufelsspiel
vor?
»Yo, Gen, alles klar?«, fragte er stirnrunzelnd, ließ sich auf den verschrammten Stuhl neben ihr fallen und streckte die langen Beine aus.
»Ja.« Sie schluckte und brachte ansonsten kein einziges Wort über die Lippen. Ihr Kopf war leer.
»Ich hab gehört, was passiert ist«, sagte er. »Mann, was für ’ne verrückte Scheiße, dass jemand dich packen und ausknipsen wollte. Ich hab mir echt Sorgen gemacht.«
»Ehrlich?«
»Klar.«
»Es war total unheimlich.«
»Hauptsache, dir geht’s gut.«
Sie spürte, wie ihr Gesicht auf einmal ganz heiß wurde. Sagte Kevin das wirklich zu ihr?
»Warum gehst du nicht einfach nach Hause?«, fragte er. »Weswegen bist du hier?«
»Wegen ’nem Test in Englisch. Und wegen unseres Mathetests.«
Er lachte. »O Mann. Du bist noch scharf auf die Schule, nach all diesem Mist?«
»Ja. Ich darf die Tests nicht verpassen.«
»Und hast du Mathe gecheckt?«
Es ging lediglich um Differenzialrechnung. Keine große Sache. »Ja, müsste klappen. Ich find’s nicht so schwierig.«
»Cool. Wie dem auch sei, ich wollte bloß sagen, dass ich weiß, wie manche Leute hier dir zusetzen. Und du lässt es über dich ergehen. Aber die wären heute an deiner Stelle garantiert nicht hier aufgetaucht. Die sind alle zusammen nicht halb so viel wert wie du. Du hast echt Rückgrat, Gen.«
Das Kompliment raubte ihr schier den Atem. Geneva blickte verlegen nach unten und zuckte die Achseln.
»Da ich nun weiß, was du draufhast, sollten wir uns vielleicht öfter sehen. Aber du bist ja nie da.«
»Na ja, es gibt so viel für die Schule zu tun. Immer derselbe Scheiß.« Halt dich zurück, ermahnte sie sich. Du brauchst dich nicht seinem Jargon anzupassen.
»O nein, daran liegt es nicht«, scherzte Kevin. »Ich weiß, was der Grund ist. Du bist drüben in Brooklyn und vertickst Speed.«
»Ich …« Beinahe hätte sie ein »doch nicht« folgen lassen, aber sie verkniff es sich gerade noch rechtzeitig. Stattdessen lächelte sie ihn schüchtern an und schaute auf den zerkratzten Boden. »Ich deale nicht in Brooklyn. Nur in Queens. Die Leute da haben nämlich mehr Kohle.« Lahm, lahm, lahm, Mädchen. Oh, bist du jämmerlich. Ihre Handflächen waren schweißnass.
Doch Kevin lachte laut auf. Dann schüttelte er den Kopf. »Ach, jetzt weiß ich, wieso ich auf Brooklyn komme. Deine Mutter verkauft dort Speed.«
Das wirkte wie eine Beleidigung, war aber in Wahrheit eine Einladung. Kevin forderte sie zu einem kleinen Wettstreit auf, in dem es darum ging, sich gegenseitig möglichst einfallsreiche Schmähungen an den Kopf zu werfen. Diese Art der verbalen Konfrontation besaß in der schwarzen Kultur eine lange Tradition. Er gab sogar Leute, die damit öffentlich auftraten. Die meisten dieser spielerischen Auseinandersetzungen fanden jedoch in Wohnzimmern statt, auf Schulhöfen, in Pizzerien, Bars, Clubs oder auf den Stufen vor irgendeinem Haus. Häufig ging es mit einer eher spöttischen Bemerkung los, wie eben bei Kevin. Deine Mutter ist so dumm, dass sie im Alles-für-einen-Dollar-Laden nach den Preisschildern sucht … Deine Schwester ist so hässlich, dass man sie nicht mal als Ziegelstein flachlegen würde.
Doch hier und heute war Wortwitz nur in zweiter Linie gefragt, denn es traten normalerweise Männer gegen Männer und Frauen gegen Frauen an. Wenn ein Mann eine Frau herausforderte, bedeutete das nur eines: einen Flirt.
Was geht hier vor?, dachte Geneva. Sie musste erst überfallen werden, damit die Leute sie respektierten? Ihr Vater hatte immer gesagt, dass jedes Unglück auch sein Gutes haben könne.
Na los, Mädchen, du bist dran. Das Spiel war irgendwie kindisch und albern, aber Geneva wusste, wie es ging. Sie, Keesh und deren Schwester hatten schon so manche Stunde damit zugebracht. Deine Mutter ist so fett, dass sie Blutgruppe Ragout hat … Dein Chevy ist so alt, dass man die Lenkradkralle geklaut und den Wagen dagelassen hat … Jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals, sodass sie einfach nur grinste und wortlos weiterschwitzte. Verzweifelt rang sie um irgendeine Antwort.
Aber das hier war Kevin Cheaney höchstpersönlich. Ihr fehlte nicht nur der Mut, eine bissige Bemerkung über seine Mutter zu machen, ihr Hirn war zudem wie erstarrt.
Sie sah auf die Uhr, dann auf ihr Englischbuch. Herrje, du dämliche Ziege, schimpfte sie innerlich mit sich selbst. Sag was!
Doch es kam kein Ton über ihre Lippen. Sie wusste, dass Kevin sie gleich auf eine Art ansehen würde, die sie nur zu
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