Das Teufelsspiel
Bürstenschnitt, hatte das Stück auf Schallplatte besessen und es immer wieder abgespielt – auf dem Sears-Plattenspieler aus grünem Plastik, der in seiner Werkstatt stand.
»Achte auf diese Stelle, Junge. Die Tonart ändert sich. Warte … warte … Jetzt! Hast du das gehört?«
Der Junge glaubte es zumindest.
Nun öffnete Thompson die Augen und widmete sich wieder dem Buch.
Fünf Minuten später: Sssst … »Bolero« verstummte, und er fing an, eine andere Melodie zu pfeifen: »Time After Time«, den Song, den Cindy Lauper in den Achtzigern berühmt gemacht hatte.
Thompson Boyd hatte Musik schon immer gemocht und seit frühester Jugend ein Instrument spielen wollen. Seine Mutter fuhr ihn eine Weile zum Gitarren- und Flötenunterricht. Nach ihrem Unfall fuhr ihn sein Vater, auch wenn er deshalb zu spät zur Arbeit kam. Aber Thompson machte kaum Fortschritte: Seine Finger waren zu dick und zu kurz für Griffleisten, Flötenklappen und Klaviertasten, und er besaß absolut keine Singstimme. Ob im Kirchenchor oder beim Singen unter der Dusche, er bekam bloß ein Krächzen über die Lippen. Also kehrte er der Musik nach ein oder zwei Jahren den Rücken und beschäftigte sich fortan mit den gleichen Dingen wie all die anderen Jungen in Amarillo, Texas: Er verbrachte Zeit mit seiner Familie, nagelte, hobelte und schmirgelte in der Werkstatt seines Vaters, spielte erst Touch-Football, dann richtigen Football, ging auf die Jagd, verabredete sich mit schüchternen Mädchen, unternahm Wüstenwanderungen.
Und verbarg seine Liebe zur Musik an dem Ort, der für gescheiterte Hoffnungen vorgesehen war. Die aber krochen früher oder später wieder hervor, denn dieser Ort lag, wie bei den meisten Menschen, ziemlich dicht unter der Oberfläche.
In seinem Fall geschah es vor einigen Jahren im Gefängnis. Einer der Wärter im Hochsicherheitsblock kam zu ihm und fragte: »Scheiße, was war das denn?«
»Was?«, entgegnete der stets ruhige Joe Jedermann.
»Dieses Lied, das du gepfiffen hast.«
»Ich hab gepfiffen?«
»Scheiße, ja. War es dir gar nicht bewusst?«
»Nein, muss wohl ganz von selbst passiert sein«, sagte er. »Ich hab nicht drüber nachgedacht.«
»Verdammt, das klang echt gut.« Der Wärter ging wieder weg, und Thompson lachte in sich hinein. Sieh mal einer an! Er besaß also doch ein Instrument, war sogar damit geboren worden und trug es immer bei sich. Thompson ging in die Gefängnisbibliothek und stellte ein paar Nachforschungen an. Er erfuhr, dass jemand wie er als Kunstpfeifer galt, denn nur sehr wenige Menschen verfügten beim Pfeifen über eine ähnliche Bandbreite an Tönen. Man konnte damit gutes Geld verdienen – als professioneller Musiker in Konzerten, Werbespots oder Fernseh- und Kinofilmen (jeder kannte zum Beispiel den River-Kwai-Marsch; schon beim Gedanken daran musste man unwillkürlich die ersten paar Takte pfeifen). Es gab auch Wettbewerbe; der bekannteste war die International Grand Championship, an der Dutzende von Künstlern aus aller Welt teilnahmen. Viele von ihnen traten regelmäßig mit Orchesterbegleitung auf oder hatten eigene Varieténummern.
Sssst …
In seinem Kopf erklang die nächste Melodie. Thompson Boyd pfiff sie leise vor sich hin. Er bemerkte, dass sein 22er nicht in Griffweite lag. Das war alles andere als professionell … Er legte die Waffe neben sich und las weiter in dem Buch, klebte mehr Zettel auf die Seiten und schaute in die Einkaufstüte, um sich zu vergewissern, dass er alles hatte, was er brauchte. Im Großen und Ganzen hatte er die Technik begriffen. Doch wie immer, wenn er etwas Neues lernte, würde er erst dann zur Tat schreiten, wenn er es sicher beherrschte.
»Nichts, Rhyme«, sagte Sachs in das Mikrofon, das neben ihren Lippen hing.
»Nichts?«, wiederholte er barsch. Seine anfangs gute Laune hatte sich endgültig verflüchtigt.
»Niemand hat ihn gesehen.«
»Wo seid ihr?«
»Wir haben praktisch ganz Little Italy abgesucht. Lon und ich sind im Süden, an der Canal Street.«
»Verdammt noch mal«, murmelte Rhyme.
»Wir könnten …« Sachs hielt abrupt inne. »Was ist das?«
»Was denn?«, fragte Rhyme.
»Moment.« Sie wandte sich an Sellitto. »Los, gehen wir.«
Sie hielt ihre Dienstmarke hoch und bahnte sich einen Weg über vier Fahrspuren mit dichtem Verkehr. Nachdem sie sich kurz orientiert hatte, bog sie in Richtung Süden auf die Elizabeth Street ein, eine dunkle Häuserschlucht voller Wohngebäude, kleiner Geschäfte und
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