Das Teufelsspiel
Ende gestand sie ihm die Wahrheit über den Arm, woraufhin Thompson ihrem Exmann einen Wochenendbesuch abstattete. Danach erzählte Jeanne ihm, ein Wunder sei geschehen: Ihr Ex habe die Stadt verlassen und rufe nicht mal mehr die Mädchen an, was er sonst einmal pro Woche getan hatte, um betrunken über ihre Mutter herzuziehen.
Einen Monat später zog Thompson bei ihr und den Kindern ein.
Für Jeanne und ihre Töchter war es ein gutes Arrangement, so schien es. Er war ein Mann, der nie laut wurde oder zuschlug, der die Miete bezahlte und pünktlich nach Hause kam – sie mussten ihn für einen absoluten Glücksgriff halten. (Thompson hatte im Gefängnis sehr viel über bescheidene Ansprüche gelernt.)
Und auch für ihn, den Auftragsmörder, brachte die Übereinkunft Vorteile. Jemand mit seinem Beruf wirkte längst nicht so verdächtig, wenn er eine Frau oder Freundin mit Kindern vorweisen konnte.
Doch es gab einen noch wichtigeren Grund, aus dem er bei Jeanne lebte, und der hatte nichts mit Logistik oder Bequemlichkeit zu tun. Thompson Boyd wartete. Seit langer Zeit fehlte etwas in seinem Leben, und er erwartete dessen Rückkehr. Er glaubte, dass jemand wie Jeanne Starke, eine Frau ohne übertriebene Ansprüche und Hoffnungen, ihm helfen konnte, es zu finden.
Und was genau fehlte ihm? Ganz einfach: Er wartete darauf, dass die Taubheit in seinem Innern nachlassen und Platz für Gefühle machen würde, so wie ein eingeschlafener Fuß wieder zum Leben erwachte.
Thompson konnte sich noch an vieles aus seiner Kindheit in Texas erinnern, an Bilder seiner Eltern und seiner Tante Sandra, seiner Cousins und seiner Schulfreunde. Sie schauten sich im Fernsehen die Spiele der Collegemannschaften an oder saßen um die elektrische Sears-Orgel herum, auf der Thompson die Akkorde spielte und seine Tante oder sein Vater sich bemühte, mit dicklichen Fingern (das lag in der Familie) die Melodie hinzubekommen. Sie sangen »Onward Christian Soldiers« und »Tie a Yellow Ribbon« oder auch das Titellied aus dem Film Die grünen Teufel. Sie spielten Karten. Sein Vater brachte ihm in dem ordentlich aufgeräumten Schuppen den Gebrauch der Werkzeuge bei. Sie unternahmen Wanderungen durch die Wüste, bestaunten Sonnenuntergänge, erkaltete Lavaströme, Kojoten und die Gehörnten Klapperschlangen, die sich so wunderbar fließend bewegten und dich dennoch mit einem einzigen blitzschnellen Biss töten konnten.
Er erinnerte sich an seine Mutter, wie sie zur Kirche ging, Sandwiches einpackte, Sonnenbäder nahm, den texanischen Staub zur Wohnwagentür hinausfegte und mit ihren Freundinnen auf Aluminiumstühlen saß. Er erinnerte sich an seinen Vater, wie er zur Kirche ging, Schallplatten sammelte, die Samstage mit seinem Jungen und die Wochentage mit der Arbeit an den Bohrtürmen verbrachte. Er erinnerte sich an diese herrlichen Freitagabende, wenn sie im Goldenlight Cafe an der Route 66 Harleyburger und Pommes frites aßen, während aus den Lautsprechern Texas Swing ertönte.
Damals war Thompson Boyd nicht empfindungslos.
Sogar während der schweren Zeit, nachdem ein Juni-Tornado ihnen allen das Heim und seiner Mutter den rechten Arm und beinahe das Leben genommen hatte, sogar als sein Vater seinen Job im Zuge der Entlassungswelle verlor, die wie ein Sandsturm aus Oklahoma durch das nördliche Texas fegte, war Thompson nicht empfindungslos.
Und er war ganz sicher nicht empfindungslos, als er beobachtete, wie seine Mutter nach Luft rang und mit den Tränen kämpfte, nachdem ein Junge sie auf den Straßen von Amarillo »Einarm« gerufen hatte. Thompson folgte dem Kerl und sorgte dafür, dass er sich nie wieder über andere Leute lustig machen würde.
Aber dann kamen die Jahre im Gefängnis. Und irgendwo in diesen nach Desinfektionsmittel stinkenden Gängen legte die kalte Taubheit sich über seine Gefühle und ließ sie einschlafen. So tief, dass er nicht das Geringste spürte, als man ihm mitteilte, ein Lastwagenfahrer sei hinter dem Steuer eingenickt und habe seine Eltern und seine Tante getötet; man habe aus dem Wrack nur einen einzigen heilen Gegenstand bergen können, nämlich den Schuhputzkasten, den der Sohn seinem Vater zum vierzigsten Geburtstag gebaut hatte. So tief, dass Thompson Boyd – nachdem er die Strafanstalt hinter sich gelassen und den Aufseher Charlie Tucker ausfindig gemacht hatte – nichts fühlte, während er dem Mann beim langsamen Sterben zusah. Tuckers Gesicht lief in der Schlinge dunkelrot an, und er
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