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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Genau«, sagte er in seltsam angespanntem Tonfall. »Euch auch.«
    Dann richtete er sich auf und fuhr merklich lauter fort, als spreche er zu einem Publikum. »Möge der Mitfühlende Buddha euch beschützen.«
    Dabei lächelte er den zerlumpten Tibetern zu, die vor dem Tor zwischen den Häusern saßen.
    Die erste Stunde sagte niemand ein Wort. Lhandro legte ein dermaßen hohes Tempo vor, daß Nyma mehrmals im Laufschritt zu den anderen aufschließen mußte. Als das gompa schon eine ganze Weile hinter den Hügeln außer Sicht verschwunden war, hielten sie schließlich an einem kleinen Bach.
    »Wer ist dieser Tuan?« stieß Lhandro gehetzt hervor, als habe diese Frage ihm schon seit ihrem Aufbruch auf der Zunge gebrannt und als fürchte er immer noch, man könne ihn belauschen. »Warum hat man. Was haben die dem armen Tenzin angetan? Er hat niemandem ein Haar gekrümmt.«
    »Der Mord an Chao«, sagte Nyma langsam. »Nach einer solchen Tat verhalten alle sich merkwürdig. Die müssen geglaubt haben, daß Tenzin über irgendwelche Informationen verfügt. Ganz sicher eine Verwechslung. Diese Narren. Er war die ganze Zeit bei uns und dem Mandala.«
    Shan stillte am Bach seinen Durst. Er hob den Kopf, kam aber auf keine geeignete Antwort. Tenzin hatte sich nicht die ganze Zeit bei dem Mandala aufgehalten. Und es gab noch etwas, das ihm beinahe entfallen wäre. Als Drakte unmittelbar vor seinem Tod die lhakang betreten hatte, war sein Blick zunächst kurz bei Tenzin verharrt.
    Shan seufzte und beobachtete, wie Nyma nun Lokesh ansah, der seinen Mantel ausgezogen und die Ärmel fast bis zu den Schultern hochgekrempelt hatte. Der alte Tibeter schrubbte sich die Arme gründlich mit dem weißen Sand des Bachbetts ab. Lhandro fing an, es ihm gleichzutun. Lokesh wusch sich das Gesicht, und dann zogen auch Shan und Nyma die Mäntel aus. Keiner von ihnen war in der Lage, die Vorfälle in diesem sonderbaren gompa zu erklären, aber sie alle verspürten das Bedürfnis, sich zu säubern. Nyma hielt den Sand einen Moment lang in der Hand und sah Shan an. Sie hatten solchen Sand zuvor schon gesehen, hatten verfolgt, wie er von den Lamas geweiht und später mit Blut besudelt worden war.
    Lokesh entzündete ein Weihrauchstäbchen und setzte sich.
    »Wir haben keine Zeit«, sagte Nyma, schloß sich dann aber widerstrebend Shan und Lhandro an, als diese sich niederließen und die duftenden Rauchfetzen betrachteten. Sie mußten sich beruhigen und gegen die beängstigenden, verwirrenden Kräfte wappnen, die offenbar ihr Fortkommen bedrohten.
    Nachdem das Stäbchen verbrannt war, stand Lhandro entschlossen auf, griff in seinen Beutel und brachte das kleine Stück Stoff zum Vorschein, das ihm manchmal als Handtuch diente. Er breitete es auf einem flachen Felsen aus und legte seine Plastik-dorje darauf. »Das ist kein wahrhaftiger Gegenstand«, sagte er und kam mit dem Tuch zu Shan, der eilig seinen eigenen Kugelschreiber hineinwarf. Er wußte, daß sie zwar alle keinen Wert auf dieses Geschenk aus dem gompa legten, Lhandros Worte jedoch dem Kunststoff galten, aus dem die dorjes gefertigt waren. Shan hatte schon andere Tibeter kennengelernt, die so auf jegliche Art von Plastik reagierten. Es war weder Holz noch Tuch, Stein oder Knochen - entstammte also nicht der Erde -, und sie mißtrauten diesem Material, als wäre es neuer übler Streich, den die Chinesen ihnen spielen wollten. Shan kannte einen dropka , der alle geschenkten oder am Wegesrand gefundenen Plastikgegenstände in einem Lederbeutel verwahrte und anläßlich seines Aufenthalts in irgendeiner Stadt dort als kleinen Kunststoffhaufen zurückließ. Der Mann war sich nicht sicher, was diese Dinge darstellen sollten, aber er wußte, daß sie »in den Untergrund« gehörten, was eine häufige Umschreibung der dropkas für alle größeren Städte war.
    Eine Stunde später hielten sie plötzlich inne, als Lhandro, der sie soeben über den Kamm eines Hügels führen wollte, die Hand hob. »Da ist einer von denen«, sagte er verärgert. »Wir müssen warten.«
    Shan schloß zu dem rongpa auf und entdeckte vor ihnen auf dem Weg einen beladenen Karren, der von einem kräftigen schwarzen Yak gezogen wurde. Neben dem Tier ging ein stämmiger Mann in einer Mönchsrobe und gestikulierte eifrig, als sei er in ein Gespräch vertieft und wolle sein Gegenüber von etwas überzeugen.
    »Er ist so langsam«, sagte Nyma, die inzwischen neben Shan stand. »Wir werden noch den halben Tag mit Warten

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