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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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stiller, sich selbst versorgender Ort, an dem jedweder Fortschritt vorbeigezogen war und an dem man Wochenoder gar monatelang keinen Gedanken an die Außenwelt verschwenden mußte. Bis das Ölprojekt Qinghai mit der Arbeit begonnen hatte.
    Dreißig Minuten später traten sie unter einigen hohen Wacholderbäumen hervor und erblickten in nur wenigen hundert Metern Entfernung das Dorf Yapchi. Es war kleiner, als Shan erwartet hatte, und ließ ihn an die rongpa-Ansiedlung denken, bei der sie zum erstenmal mit Winslow zusammengetroffen waren. Rechts von ihnen, wo der spärliche Hain dem grasbedeckten Hang wich, stand ein uralter chorten von fast drei Metern Höhe. Shan umrundete den Schrein und strich mit den Fingern über die Steine. Die Gebete, die man einst auf den Sockel geschrieben hatte, waren größtenteils der Witterung zum Opfer gefallen.
    Shan sah Winslow im Schatten des letzten Baumes verweilen und bemerkte, daß ihre Gefährten verschwunden waren. Er wollte sich schon in Richtung Dorf wenden, als ein kleiner Stein angeflogen kam und neben ihm im Gras landete. Da erst sah er Tenzin hinter Winslow stehen, begleitet von einem finster blickenden Tibeter, der einen schmutzigen grünen Pullover trug. Zu ihren Füßen lagen die Überreste einer langen mani-Mauer , deren einzelne Steine jeweils mit der Inschrift eines Mantras versehen worden waren. Tenzin winkte Shan zu sich und ging dann mit dem Fremden tiefer zwischen die Bäume und hinter einen der Felsvorsprünge, wie sie überall in diesem lichten Wald anzutreffen waren. Shan kam zögernd hinterher, blieb jedoch an der mani -Mauer stehen, kniete sich hin und nahm einen der von Pflanzen überwucherten Steine. Das Gebet darauf mußte Jahrhunderte alt sein, denn die eingeritzte Inschrift wurde vollständig von dunkler Flechte ausgefüllt, als habe die Pflanze die Worte eigenständig gebildet. Ein sich selbst erneuerndes Gebet, hätte Lokesh wohl dazu gesagt.
    Shan lehnte den Stein gegen einen Baum, so daß das Gebet nach außen zeigte, und folgte Winslow, Tenzin und dem Fremden dann über einen gewundenen Pfad auf das Geräusch mehrerer Stimmen zu. Der Duft brennenden Wacholders stieg ihm in die Nase. Sie bogen um die Kante einer hohen Felswand und fanden sich auf einem geschäftigen Lagerplatz wieder. Ein schlanker Tibeterjunge mit pockennarbigem Gesicht lief zu Tenzin, nahm ihn beim Arm und zog ihn in den hinteren Teil des kleinen Tals. Der Mann mit dem zerlumpten grünen Pullover kam ebenfalls mit.
    Shan blieb am schmalen Zugang der Schlucht stehen und ließ den Blick über das Durcheinander schweifen. Vor ihm saßen mindestens vierzig Leute auf Decken oder an Lagerfeuern. In manchen Gesichtern sah er Blutergüsse, und einige der Menschen trugen Verbände. Auf einer der Decken lag ein regloser junger Mann und wurde von einer grauhaarigen Frau umsorgt. Chemi kniete abseits und sprach aufgeregt mit einer älteren Frau, während sie gleichzeitig die Hand eines großen Mannes streichelte, der mit geschwollenem Gesicht und glasigem Blick an einen Fels gelehnt dasaß. Um Stirn und linken Arm trug er blutige Bandagen.
    »Unser Dorf lag am nächsten, also hat ihre Familie sich hergeflüchtet«, erklärte Anya, die nun an Shans Seite trat. »Die Firma sagte, man müsse am Bach bei Chemis Heimatort eine Sammelstelle für Wasser errichten. Es hieß, die Häuser dürften nicht stehen bleiben, denn die Wasserqualität würde dadurch beeinträchtigt. Angeblich wollte die Firma eine Entschädigung zahlen. Chemis Schwester sagte, sie würden ihr Heim nicht ohne Bescheid des Bezirksrats aufgeben, aber die Firmenleute wollten davon nichts hören und hatten Soldaten zur Unterstützung mitgebracht.«
    »Es war nicht bloß die Armee da, sondern auch die Regierung«, warf die alte Frau ein. »Der Mann hat uns seine Karte gezeigt. Er kam von irgendeinem Ministerium in Peking. Wir hätten nie gedacht, daß Peking je Notiz von uns nehmen würde, und mein Sohn wollte schon immer jemanden von dort kennenlernen, weil es in seiner Schule hieß, daß da viele Helden leben. Aber es war nur ein Mongole mit dunkler Brille.«
    »Sonderprojekte«, murmelte Winslow, der hinter Shan stand. Zhu, der Direktor für Sonderprojekte, war bei der Zerstörung des Dorfes zugegen gewesen.
    Mehrere der Leute aus Yapchi waren hergekommen, um bei der Versorgung der Verletzten zu helfen, und sprachen nun aufgeregt mit Anya über die Rückkehr der Karawane.
    Einige von ihnen bedachten danach Shan mit ernsten

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