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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sie zusammen, woraufhin die beiden Dörfler ihren Anführer beiseite nahmen, auf ihn einredeten und dabei immer wieder wütend auf Lin und die umliegenden Berge deuteten. Shan beobachtete, wie Nyma sich zu ihnen gesellte und leise zu sprechen begann. Die Männer schienen sich mit hängenden Köpfen bei ihr zu entschuldigen, fertigten aus ihren beiden schweren chubas eine provisorische Trage und schleppten Lin den steilen Hang hinauf. Sie folgten nun keinem Pfad mehr, sondern steuerten auf der grasbewachsenen Bergflanke eine Lücke im Felsen an, die nach Süden führte. Nach einer Stunde steilen Aufstiegs hatten sie unter Nymas Führung die Schlucht hinter sich gelassen und sahen die langgestreckte Ebene der Blumen vor sich, auf der die Ruinen von Rapjung standen.
    Lhandro hielt kurz inne und schaute mit trostlosem Blick zu seinem Tal zurück. Als Shan neben ihm stehenblieb, schien der rongpa ihn gar nicht zu bemerken. »Unser Gott ist tatsächlich blind, das haben wir heute bewiesen«, flüsterte Lhandro schließlich und ging weiter.
    Nyma und die Männer aus Yapchi bogen wortlos auf einen Ziegenpfad ein, der ein Stück unter ihnen an einem winzigen Felsvorsprung endete. Ihre Mienen waren zu Masken der Trauer und Angst erstarrt. Sie hatten ihr friedliches Dorf verloren. Mehrere der Soldaten waren tot, und die Armee würde niemals an einen Unfall oder eigenes Verschulden glauben. Und mitten in ihr Versteck, zu dem Nyma sie soeben führte, schleppten sie den Dämon, dem sie all ihr Elend verdankten.
    Es mußte sich um eine ehemalige Einsiedelei handeln, die durch einen Felsrutsch zerstört worden war, erkannte Shan, als sie das kleine Plateau erreichten. Die vordere Wand einer Steinhütte stand noch. Ihre leere Türöffnung und das Fenster wiesen in Richtung des Abgrunds, der ein paar Schritte weiter begann - eine senkrechte, vierhundert Meter hohe Klippe über dem Schluchtenlabyrinth der südlichen Ausläufer des Bergs Yapchi. Der Rest des Gebäudes lag unter losen Felsen begraben, die bis zur halben Höhe der Mauer reichten und dahinter leicht ansteigend zum steilen Hang verliefen. Am anderen Ende des Plateaus wuchs ein einzelner knorriger Wacholderbaum, dessen Stamm mehr als dreißig Zentimeter dick und doch weniger als zweieinhalb Meter hoch war. Die Äste zeigten ausnahmslos gen Süden, in Richtung Rapjung.
    »Ich glaube, diesen Ort haben sie gemeint«, verkündete Nyma müde. »Es hieß, wir sollten die Stelle am Südhang aufsuchen, die früher von den Lamas genutzt wurde. Ich bin noch nie hiergewesen, aber.«
    Ihre Stimme erstarb, weil jenseits der Hütte ein Mann auftauchte, als wäre er direkt dem Schatten der Felswand entstiegen. Es war einer der purbas aus der Schlucht bei Yapchi, der Mann mit dem zerlumpten Pullover. Er winkte sie hastig zu sich, als würde er nicht wollen, daß sie dort im Freien blieben. Dann verschmolz er plötzlich wieder mit den Felsen.
    Am hintersten und schmälsten Punkt des Plateaus hatte der Felsrutsch fast die steile Bergwand erreicht. Doch die Katastrophe, der die Hütte zum Opfer gefallen war, hatte den Rest der kleinen Anlage nicht etwa zerstört, sondern nur unter sich begraben. Ein stabiler Türrahmen im Schutt sah wie ein Tunneleingang aus. Zum Plateau hin hatte man als Sichtschutz geschickt einen Felswall errichtet, der wie ein Teil des ursprünglichen Steinschlags wirkte. Nur aus kürzester Entfernung ließ der Durchgang sich erkennen. Shan sah die Männer mit der Trage den dunklen Eingang betreten und folgte ihnen in einen niedrigen Raum mit massiven hölzernen Stützbalken, dessen Boden und Decke aus dicken, lückenlos aneinanderliegenden Bohlen gefertigt waren, als hätten die Erbauer von vornherein mit einem Felsrutsch gerechnet.
    An der Rückwand der Kammer befand sich ein halbes Dutzend Schlafstellen. Daneben standen mehrere der zusammengebundenen Kessel und Töpfe, die Shan im Dorf gesehen hatte. Nyma ging weiter in einen Raum, der vom trüben Schein einiger Butterlampen erhellt wurde, und bedeutete den Männern mit der Trage, ihr zu folgen. Die zweite Kammer besaß ein offenes Luftloch im Dach, maß ungefähr vier mal sechs Meter und war somit größer als die erste. Zwei Durchgänge führten in kleine Zimmer, die offenbar einst als Meditationszellen gedient hatten. Zwischen den Eingängen hing ein altes verblichenes thangka des Heilenden Buddhas. Als Shans Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten, sah er mehrere Gestalten von ihren Plätzen an der Rückwand

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