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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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aufstehen. Lhandros Eltern waren dort, ebenso Tenzin und die drei purbas , die ihn in Yapchi erwartet hatten. In einer Ecke hinter den Männern lagen die Gegenstände, die Shan bereits aus der kleinen Schlucht oberhalb des Dorfes kannte. Lepka untersuchte soeben mehrere große, sehr alte Tongefäße, die getrocknete Kräuter zu enthalten schienen.
    Lokesh und Tenzin verloren keine Zeit, als Lin auf einer der Schlafstellen abgelegt wurde. Während der alte Tibeter sich über den reglosen Oberst beugte, holte Tenzin alle Lampen und stellte sie neben ihm auf. Winslow gesellte sich mit seiner Taschenlampe hinzu, und Lokesh legte dem Verletzten drei Finger an beide Handgelenke und den Hals.
    »Was soll der Gefangene?« fragte einer der purbas mit kaum verhohlenem Arger. »Er kann uns nichts nützen, sondern höchstens unsere Geheimnisse verraten.«
    Lokesh blickte zur Tür und dann wieder zu dem wütenden Tibeter. »Ich verstehe nicht. Wer ist hier gefangen?«
    »Dieser verfluchte Offizier«, knurrte der purba.
    Lokesh runzelte die Stirn. »Ach so«, seufzte er nach kurzem Grübeln. »Er ist kein Gefangener. Er ist ein Mann, der unser Mitgefühl braucht.«
    Der purba mit dem grünen Pullover, der bis dahin mit Winslow gesprochen hatte, drehte sich ungläubig zu Shan um. »Ihr habt ihn gerettet? Ihr habt ihn aus seinem Grab geholt?«
    Lhandros Vater kam hinzu, setzte sich auf den Boden und half Lokesh, der das Gesicht des Obersts wusch. Lepka nahm ihm den Lappen ab und spülte ihn in einer Schale Wasser aus. »Ihr solltet diesem Mann dankbar sein«, sagte der alte rongpa.
    »Dankbar?« gab der junge purba schroff zurück.
    »Nur wegen ihm sind alle so schnell gerannt«, sagte Lepka. »Ohne ihn wären einige von uns durch die Felsen erschlagen worden - und nicht diese armen Soldaten.«
    Der purba stöhnte wütend auf, machte kehrt und verließ den Raum.
    Lokesh wusch den Verletzten, massierte die Hand unterhalb des gebrochenen Gelenks und fühlte mehrfach den Puls. Als Nyma losging, um bessere Schienen zu suchen, schaute Lokesh dem Oberst in Ohren und Mund, zog ihm die Stiefel aus und fühlte mit geschlossenen Augen zunächst abermals den Puls an Lins Hals und danach an beiden Fußknöcheln. Am Ende säuberte er noch einmal die Kopfwunde. Er wirkte überaus besorgt, denn Verletzungen des Schädeldachs waren besonders ungünstig. Falls der Geist aus dem geschundenen Fleisch weichen mußte, würde er den Körper an genau dieser Stelle verlassen.
    »Ich mache Tee, falls er aufwacht«, bot Lhandros Mutter an.
    Lokeshs Miene war seltsam umwölkt. »Dieser Mann wird vorerst nicht aufwachen. Womöglich nie mehr.«
    Er erhob sich steifbeinig und ging hinaus.
    Zehn Minuten später fand Shan ihn dicht vor der Kante des kleinen Plateaus wieder, wo er den Sonnenuntergang über der Ebene der Blumen verfolgte. Shan betrachtete seinen Freund und versuchte, dessen melancholischen und gleichzeitig verwirrten Gesichtsausdruck zu ergründen.
    »Die besten Heiler in Rapjung waren diejenigen, die erst dann mit dem Studium der Heilslehre begannen, nachdem sie viele Jahre als einfacher Mönch gelebt und ihren inneren Buddha genau kennengelernt hatten«, sagte der alte Tibeter. »Es hieß, kein Heiler könne die Gesundheit eines Patienten wieder ins Gleichgewicht bringen, solange in seiner eigenen Seele nicht ein ebensolches Gleichgewicht herrscht.«
    Lokesh klagte fast nie; und wenn, dann stets über die eigene Unzulänglichkeit. Der Gedanke, daß sein Freund sich irgendwie schuldig fühlte, weil es ihm nicht möglich war, Lins Verletzung zu behandeln, versetzte Shan einen Stich. »Ich weiß noch, was die Lamas in unserer Baracke einmal gesagt haben: Falls man eine Seele ungestört zu ihrer wahren Natur heranwachsen läßt, wird sie viele Jahrzehnte einem Körper innewohnen und dann eines Tages wie eine reife Frucht erblühen«, sagte Shan und folgte dabei Lokeshs Blick zur Ebene der Blumen. »Aber sie haben auch gesagt, daß der Ort der Reife gut gewählt werden muß, denn sonst verfault die Seele und fällt vorzeitig ab.«
    Lokesh nickte langsam.
    Sie sahen die Sonne verschwinden. Der Horizont unter der fernen Wolkendecke erglühte rosafarben und golden.
    »Mich beunruhigt nicht, daß es für ihn vielleicht an der Zeit ist zu sterben«, sagte Lokesh leise. »Aber er ringt dort um sein Leben, und ich weiß keine Medizin, finde keine Worte und vermag nicht einmal zu entscheiden, was ich für einen Mann wie ihn hoffen soll oder wie ich seine Seele

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