Das tibetische Orakel
mögliche Erklärung zu sein.
»Er hat gesagt, es sei eine Art Pilgerreise«, fuhr Lokesh fort. »Und falls er Geld besäße, könnte ihn das womöglich verleiten, mit Bussen zu fahren und Städte zu betreten. Er ist immer zu Fuß gegangen, nahe an der Erde, seit nunmehr acht Monaten. Gelegentlich ist er bei rongpas untergekommen oder mit den dropkas und ihren Herden gereist. Und er hat geheilt, wo er konnte. Um alte Wurzeln auszugraben, wie er sagte - als lägen die alten Bräuche noch immer im Land und im Herzen des Volkes verborgen und müßten einfach nur neu entdeckt werden. Er stellt die alten Arzneien her. Manchmal haben ganze Dörfer eine Nacht lang bei ihm gesessen und sich vom Dalai Lama und dem früheren Tibet erzählen lassen, und er erinnert die Leute an Heilmethoden, die sie längst vergessen glaubten.«
»Aber warum ist er gerade hierher gekommen?«
»Hier in Rapjung hat er fast fünfzig Jahre seines Lebens verbracht. Hingeschickt wurde er als kleiner Junge, noch zu Lebzeiten des dreizehnten Dalai Lama. In Indien war er viele Jahre als Leiter der neuen Schule tätig. Es wurde Zeit, damit aufzuhören, hat er gesagt. Ich glaube, er möchte die alte Schule zu neuem Leben erwecken.«
»Rapjung?«
Lokesh nickte. »Er sagt, er habe unterwegs andere Heiler getroffen; alle hätten sie Rapjung gekannt und ihn oft gefragt, ob dort noch immer Heilkräuter wüchsen. Er hat mir erzählt, er habe die Ruinen besucht und die neuen Gebäude gesehen.«
Sie sahen sich bedeutungsvoll an. Jokar wußte noch nichts von dem Brand. »Er sagt, die Tibeter müßten lernen, wie man sich treu bleiben und dennoch Veränderungen bewirken kann.«
Lokesh hielt inne und nickte erneut, sehr bedächtig, als würde er über diese Worte nachsinnen. »An den Gerüchten ist etwas Wahres. Jokar muß gekommen sein, um den Stuhl des Siddhi einzunehmen, jenes Widerstandsführers aus den uralten Geschichten.«
»Die Kriecher verfügen in Indien über Spione«, sagte Shan. »Wenn ein so berühmter Lama nach Tibet aufbricht, um das Volk um sich zu scharen, kann ihnen das nicht entgehen. In ihren Augen handelt es sich um die schlimmste aller möglichen Sünden gegen die Regierung. Er befindet sich in höchster Gefahr.«
Lokesh nickte. »Pflichten«, sagte er bekümmert. Was er ausdrücken wollte, bedurfte keiner weiteren Worte, denn Shan wußte sofort Bescheid. Er hatte dieses Thema schon oft erörtert, sowohl mit Lokesh als auch mit anderen Tibetern. Die Soldaten würden tun, was sie tun mußten, sollte das heißen, und für die Tibeter galt das ebenfalls.
»Er wäre hier in Sicherheit gewesen und hätte ein paar Tage bleiben können.«
»Wer könnte sich erdreisten, von ihm eine Änderung seiner Pläne zu verlangen? Er sucht all die alten Orte auf. Die Kräuterwiesen. Die Mischplätze. Und während er das tut, wird er nach Medizin für den kranken Oberst suchen.«
Shan überdachte Lokeshs Worte. »Was sagt er über Lin?«
»Sein Schädeldach hat einen Riß abbekommen. Aber da ist noch etwas anderes aus der Zeit vor dem Unfall.«
»Er war schon krank?«
Lokesh nickte ernst. »Herzwind.«
Nach der von Lokesh und Jokar praktizierten tantri- schen Heilkunde stellte der Herzmittelpunkt die Schnittstelle zwischen körperlichem und geistigem Dasein dar. Damit war nicht der eigentliche Herzmuskel gemeint, sondern das Zentrum des Bewußtseins und der Lebensenergie. Mit »Herzwind« bezeichnete man eine Belastung des Herzmittelpunkts durch heftige Wut, Angst oder andere geistige Ungleichgewichte. Jokar würde Lins Gebrechen nicht einzeln, sondern als Gesamtheit behandeln. »Es gibt Arzneien, die helfen könnten, aber meistens hängen die Störungen eng miteinander zusammen. Jokar sagt, Herzwind scheine heutzutage die verbreitetste Krankheit in Tibet zu sein.«
Lokeshs Blick richtete sich auf die Pfade. Auch er schien nach dem alten Lama Ausschau zu halten. »Er hat noch etwas gesagt. Daß wir Lin von den Felsen hergebracht haben, sei auch Teil der Heilung gewesen. Für alle.«
Shan geriet ins Grübeln. Demnach glaubte Jokar, daß nicht nur Lin, sondern womöglich sie alle an einem Ungleichgewicht litten, und indem die Tibeter einen verhaßten Oberst vor dem ansonsten sicheren Tod gerettet hatten, war vielleicht auch ein anderer Heilungsprozeß in Gang gesetzt worden.
»Jokar sagt, früher sei auf den Hängen bei Yapchi eine kleine graue Pflanze mit herzförmigen Blättern gewachsen, die nun hilfreich wäre. Er hat mich gefragt, ob ich
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