Das tibetische Orakel
Heilung zu uns zurückbringen«, flüsterte Nyma schließlich traurig.
Am nächsten Morgen saß Lin bereits aufrecht an der Wand. Er schien nicht sprechen zu können oder zu wollen, beobachtete aber unentwegt die Tibeter. Mit der gesunden Hand durchsuchte er seine Taschen und häufte den Inhalt neben sich auf. Zigaretten, Streichhölzer, eine Trillerpfeife, ein kleiner Handschellenschlüssel und ein winziger ockerfarbener Beutel, der mit einem Faden verschnürt war. Immer wenn Tenzin im Licht der Butterlampen auftauchte, wies der Oberst auf ihn. Manchmal machte er dabei kleine Greifbewegungen wie ein wütender Krebs, und mitunter rieb er sich auch die Augen, als könne er den Tibeter dann besser erkennen. Anya wich weiterhin nicht von seiner Seite und reichte ihm gelegentlich eine Schale Tee. Jokar war fort. Niemand hatte ihn aufbrechen gesehen. Lhandros Mutter sagte, es sei nun mal die Art solcher Geschöpfe, sich plötzlich in Luft aufzulösen. Winslow glaubte, im grauen Licht der Morgendämmerung eine Gestalt auf dem Pfad nach Westen erspäht zu haben. Lokesh wirkte erschöpft. Er war fast die ganze Nacht mit Jokar aufgeblieben, noch lange nachdem Shan sich todmüde zum Schlafen hingelegt hatte. Nun sah Shan ihm dabei zu, wie er den Verband von Lins Handgelenk abwickelte und aus dem Schatten eine Schale mit leuchtendweißem Salz zu sich heranzog. Hochkonzentriert und ohne einen Blick für seine Umgebung hielt Lokesh dann Lins gebrochene Hand über die Schüssel und fing an, sie mit Salz einzureiben. Es war das Lamtso-Salz, das machtvolle Salz des heiligen Sees, und Lokesh badete Lins Hand darin.
Der Oberst reagierte nicht, sondern verfolgte die Prozedur mit der gleichen gespannten Aufmerksamkeit wie Shan, während der alte Tibeter das Salz einmassierte und die Haut danach sanft mit einem Stück Stoff abwischte. Als er fertig war, umwickelte er das Handgelenk mit etwas, das wie ein Gebetsschal aussah, band Lin den Arm in einer Schlinge vor den Leib und stand auf. Der Oberst sah ihn erwartungsvoll an und zog die Augenbrauen hoch, als wolle er Lokesh bitten, noch zu bleiben; dann jedoch schaute er ihm lediglich verunsichert hinterher. Shan folgte Lokesh nach draußen, wo Lhandros Mutter Buttertee zubereitet hatte. Die beiden Männer nahmen sich jeweils eine Schale davon mit und gingen zum Rand des Plateaus. Keiner schien zu wissen, was er zu den Ereignissen der letzten Nacht sagen sollte.
»Ich weiß nicht mehr, wie oft wir auf irgendeinen Berg geklettert sind, weil du dachtest, du hättest dort eine große Schildkröte oder eine zehnarmige Gottheit gesehen«, sagte Shan schließlich. Er hatte es längst aufgegeben, diese Vorfälle zu zählen, und doch äußerte er niemals Einwände, wenn sein Freund darauf beharrte, daß sie sich an den Aufstieg machen sollten. »Gestern abend war es so, als sei die Schildkröte endlich gekommen.«
Lokesh setzte sein schiefes Grinsen auf und nickte. »Du sagst es.«
»Stimmt es, daß du ihn gekannt hast? In Rapjung?«
»Ich war damals bloß ein blutiger Anfänger. Aber er erinnert sich noch an mich. Wir haben uns letzte Nacht stundenlang über Rapjung und das Tal von Yapchi unterhalten, und dann ist Jokar zu diesem alten Baum da drüben gegangen und hat sich zu Tenzin gesetzt. Er weiß noch, daß ich immer mit Chigu Rinpoche zusammen war und daß Rinpoche gehofft hat, ich würde dauerhaft in Rapjung bleiben und mich ausbilden lassen.«
Niemand war dauerhaft in Rapjung geblieben, dachte Shan verbittert. »Konnte er fliehen, bevor die Armee kam?«
»Der Leibarzt des Dalai Lama hatte nach ihm geschickt. Er ließ ihm eine geheime Botschaft zukommen, als der Dalai Lama nach Indien floh. Jokar war einer der jüngsten Lehrer und sollte dabei helfen, in Indien ein neues tibetisches Heilkolleg aufzubauen. Dort ist er dann all die Jahre geblieben und hat im Dienst der Zukunft gearbeitet.«
»Er hat einen sehr weiten Weg hinter sich. Viele hundert Kilometer. Und er scheint kein Geld zu besitzen.«
Shan mußte an die verschlissene Robe und die ausgetretenen Schuhe denken. »Die Kriecher sind hinter ihm her.«
Doch er wußte, daß Jokar sich deswegen keine Sorgen machte. Sobald er die ihm vorgezeichnete Bahn eingeschlagen hatte, würde der alte Mönch sich genausowenig von den Kriechern abschrecken lassen wie Gendun oder Lokesh. Der alte Shan aus Peking hätte über die Behauptung gelacht, daß solche Männer unter dem Schutz der Götter standen. Aber eigentlich schien es die einzig
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