Das tibetische Orakel
noch wüßte, wie man sie sammelt und verarbeitet.«
»Ich glaube, du solltest nach ihm suchen, Lokesh«, sagte Shan, nachdem vom Berg ein Schwarm Vögel aufgestiegen und in Richtung der Ebene der Blumen abgeflogen war. »Du solltest ihn in ein Versteck bringen, damit er nicht so viel herumläuft, während die Soldaten in dieser Gegend sind. Versteck ihn für ein paar Wochen. Sprich mit ihm über die alte Zeit. Schreibt alles auf. Monatelang, falls nötig. Bis die Soldaten aus Yapchi abziehen. Die purbas würden euch helfen.«
Sein alter Freund schien lange über diesen Vorschlag nachzudenken. »Ich wüßte nicht, wie«, sagte er dann.
Shan starrte ihn an. Lokesh meinte nicht nur, daß es ihm schwer möglich sein würde, Jokar aufzuspüren, sondern auch, daß er sich nicht vorstellen konnte, von einem so heiligen Mann irgend etwas zu fordern. Shan dachte an letzte Nacht zurück. Niemand hatte dem greisen Lama Fragen gestellt, hatte wissen wollen, woher er stammte oder warum er gekommen war. Weil, wie Shans Lehrer es ausdrücken würden, sein Gott sich in ihn verwandelt hatte. Es war, als wäre Jokar tatsächlich ein Erleuchtungswesen, ein wahrer Bodhisattva, ein Buddha, der auf Erden blieb, um anderen auf ihrem Erkenntnisweg zu helfen.
»Ich muß in dieses Tal zurückkehren und das Auge finden«, sagte Shan. »Ich kann nicht anders.«
Lokesh sah ihn forschend an. »Manchmal entstehen Götter durch die Suche nach ihnen. Und der Prozeß der Suche mag aus sich selbst heraus den Weg weisen.«
Shan erwiderte den Blick. »Bei dir klingt das so, als müsse ich einfach nur auf Akte des Mitgefühls achten und würde dadurch am Ende Verbindung zu einer Gottheit erlangen.«
Lokesh lächelte.
»Für dich ist es hier auf dem Berg am sichersten. Jemand muß Tenzin helfen«, schlug Shan vor. Auf diese Weise würde Lokesh in Tenzins Nähe bleiben, der vermutlich noch am ehesten auf den alten Mann achten konnte, solange Shan nicht da war.
»Du hast etwas vergessen, Xiao Shan. Ich habe ebenfalls eine Verpflichtung zu erfüllen.«
Lokesh schaute hinaus über die Ebene. »Und du solltest noch etwas wissen«, sagte er mit seltsam funkelndem Blick, aufgeregt und doch ernst. »Tenzin hat gesprochen. Ich habe gesehen, wie Jokar ihn berührte, und da ist ihm eine neue Zunge gewachsen. Sie haben bei dem Baum da drüben lange miteinander geredet, und nachdem der Mond aufgegangen war, haben sie angefangen, gemeinsam an etwas zu arbeiten, wie Lamas, die im Mondschein Arzneien anmischen. Nach einer Weile bin ich hingegangen. Da lag ein Sack Lamtso-Salz, und Jokar hatte den Saum seines Gewands abgerissen und in kleine Quadrate zerteilt. Ich habe ihnen dann geholfen, aus den Stoffstücken Beutel zu formen und diese mit Salz zu füllen und zu verschnüren. >Wahre Erde< hat Jokar das Salz genannt. Tenzin hat die Worte andauernd wiederholt und dabei wie ein kleiner Junge gelächelt.«
Lokesh starrte zu einer hohen Wolke. »Tenzin hat eine starke Stimme, die sich gut für einen Tempel eignen würde. Seine neue Zunge kannte Gebete. Jokar hat ihm von einer Lehre des ersten Lama in Rapjung erzählt, des Gründers, den man Siddhi nannte. Der sagte, jede Heilung drehe sich darum, eine Verbindung zwischen der Erde und der Erde in uns allen herzustellen. Wir haben die kleinen Beutel in eine der Meditationszellen gebracht. Während Lin schlief, hat Jokar ihm einen Beutel in die Tasche gesteckt. Er sagte, jeder solle einen mitnehmen.«
Lokesh griff in seine Hemdtasche und holte daraus ein Beutelchen für Shan hervor.
»Lin hat sich heute morgen genau im Raum umgesehen.«
Shan nahm den Beutel entgegen. »Als führe er etwas im Schilde.«
»Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht«, sagte Lokesh betrübt. »Womöglich hat dieser Felsrutsch etwas bei dem Soldaten in ihm bewirkt.«
Lokesh erzählte Shan gern Geschichten über grausame Leute, die dem Tod ins Auge geblickt und sich daraufhin in grundlegend andere, bessere Menschen verwandelt hatten.
Wie aufs Stichwort erklang hinter ihnen auf dem Plateau eine heisere, aber entschlossene Stimme. »Ergebt euch! Ihr seid meine Gefangenen! Nur wer sich ergibt, kann auf unsere Gnade hoffen!«
Lin stand schwankend da und stützte sich mit der unverletzten Hand an der Felswand ab. Seine Knie drohten jeden Moment einzuknicken. Er schien Shan und Lokesh zu meinen.
»Vielleicht war es genau ein Stein zu wenig«, sagte Shan vor sich hin.
Lokesh stöhnte und sprang auf. Als er Lin erreichte, sank der Oberst
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