Das tibetische Orakel
torkelnd auf die Knie. Aus seiner Kopfwunde rann etwas Blut.
Noch während Shan auf die beiden Männer zuging, kam eine kleine Gestalt aus dem Schatten gehuscht und stellte sich zwischen Lokesh und Lin. »Alle haben geschlafen«, sagte Anya bedrückt.
Hinter ihr tauchte Nyma auf. »Das alte thangka.«
^ie schien den Tränen nahe zu sein. »Der Oberst hat es in Stücke gerissen.«
»Gehorcht! Ihr seid meine Gefangenen!« wiederholte Lin wütend, obgleich seine Kraft nur noch für ein Flüstern reichte.
»Niemand«, sagte Anya und klang dabei wie eine ungehaltene Lehrerin, »niemand wird sich hier ergeben. Und es wird auch niemand Gewalt ausüben.«
Lin sah das Mädchen verblüfft an. Er kippte nach vorn, streckte dabei den Arm nach ihr aus und bekam sie zu fassen, so daß sie unter ihm landete und seinen Sturz abfederte.
Als sie den Bewußtlosen zurück zu seinem Ruhelager getragen hatten, blickte Anya auf. »Ihr müßt gehen und es ihnen sagen«, verkündete sie. »Sagt der Armee, daß wir ihren Oberst haben. Ich glaube, er ist wichtig für sie.«
»Hör mal, Kleine«, meldete sich eine Stimme hinter ihnen. Sie gehörte dem jungen purba , der mit Tenzin hergekommen war. »Wenn du denen das sagst, werden sie annehmen, er sei eine Geisel. Oder sie rechnen mit einem Trick. Dann wird es hier zugehen wie im Krieg. Die Entführung eines Offiziers gilt als Hochverrat.«
»Wir haben niemanden entführt. Unser Weg war einfach der des Mitgefühls«, sagte das Mädchen im sanften Tonfall eines Lama.
Der purba trat aus dem Schatten vor und musterte sie mit zornigem Blick. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen. Alt genug, um in eine ihrer Kohlengruben geschickt zu werden«, sagte der junge Tibeter mit bebender Stimme. »Ich werde dir verraten, was wir mit deinem Oberst machen. Wir schleppen ihn zur Kante und schmeißen ihn runter, so wie die es schon mit so vielen Tibetern gemacht haben. Ein echtes Himmelsbegräbnis.«
Plötzlich tauchte hinter ihm eine Hand auf und packte ihn an der Schulter. Der wütende purba schien sich sofort wieder zu beruhigen. Er runzelte die Stirn, schob die Hand beiseite und ging hinaus. Es war Tenzin. Der Mann, den der Oberst liebend gern einsperren würde, kniete sich gegenüber von Anya an Lins Seite und half ihr, die Decke über den Bewußtlosen auszubreiten.
Zwei Stunden nach Sonnenaufgang näherten Winslow und Shan sich am nächsten Morgen der schmalen Passage über den Berggrat, durch die sie zurück in die Provinz Qinghai gelangen würden. Der Amerikaner blieb stehen, warnte Shan mit erhobener Hand und deutete dann nach vorn. Auf dem Kamm war eine Person unterwegs, ein kleiner Tibeter mit rundem Hut und einem Schnürbeutel über der Schulter. Sie gingen ein Stück weiter und warteten auf den Fremden, der ihnen fröhlich entgegenlächelte.
»Ihr seid diejenigen, die Yapchi beistehen«, rief er voller Zuversicht. »Die Fernen, die zu Hilfe gekommen sind.«
Die Fernen. Der Mann meinte Ausländer. »Überall in den Bergen redet man von euch und darüber, wie ihr das Gleichgewicht wiederherstellen werdet. Mein Großvater hat Ferne gekannt, die ihm geholfen haben, Dinge zu sehen«, fügte der Mann rätselhaft hinzu.
Shan stutzte. Ausländer? Der Großvater eines Mannes, der in den Bergen lebte, kannte Ausländer? »Weiter unten könnten Soldaten sein«, warnte er.
»Ich will nicht nach unten«, sagte der Mann. »Ich bringe bloß Wasser.«
Shan musterte den kleinen Schnürbeutel. »Das reicht doch höchstens für einen Kessel.«
Seine Hand in der Tasche schloß sich um einen anderen Beutel, eines jener winzigen ockerfarbenen Päckchen mit wahrer Erde, die Jokar angefertigt hatte.
»Noch nicht mal«, erwiderte der Mann. Er öffnete den Beutel und holte daraus eine Literflasche aus Kunststoff hervor. Das Etikett hatte man abgerissen und statt dessen mit dickem schwarzen Filzstift eine tibetische Aufschrift angebracht. Sum , stand dort, die Zahl drei, und darunter chu , Fluß. »Ich bringe es zur Himmelsgeburt, für die Grüne Tara«, erklärte er noch immer fröhlich, steckte die Flasche wieder ein und setzte seinen Weg fort.
»Was hat er damit gemeint?« fragte Winslow und blickte dem Mann verwirrt nach.
»Opfergaben«, erwiderte Shan. »Vielleicht hat man beschlossen, die Schutzgöttin Grüne Tara um Hilfe anzurufen. Sie gilt als sehr mächtig.«
Als sie zwei Stunden später am Ziel eintrafen, waren überall im Tal Arbeiter zu sehen. Oberhalb des Öllagers hatten die
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