Das tibetische Orakel
Holzfäller inzwischen eine Schneise von fast fünfhundert Metern Breite geschlagen. Durch die Ferngläser erspähten Shan und Winslow winzige Gestalten auf dem Bohrturm, der sich beständig immer tiefer in die Erde fraß. Und direkt unter ihnen, am südlichen Ende, wurde bei den Ruinen des Dorfes ein Lastzug voller Bauholz entladen.
Immer wenn der Amerikaner unterwegs stehengeblieben war, um auf seine Karte zu sehen, hatte Shan zögernd zurückgeblickt. Bei seinem letzten Besuch im Öllager hätten die Schreihälse ihn fast erwischt. Ob Somo noch immer dort war? Oder hatte man die unerschrockene Frau entdeckt und wegen der Fluchthilfe verhaftet? Shan hatte immer mehr das Gefühl, daß die Klärung von Larkins Schicksal auch irgendwie dazu beitragen würde, die Gottheit zu finden. Vielleicht hatte Lokesh recht. Falls Shan sich einfach nur in Akten des Mitgefühls übte, würde der Gott sich ihm zeigen.
Sie ließen die kleine Schlucht hinter sich, die den Dorfbewohnern als Versteck gedient hatte, und wollten das Tal im Schutz der Baumgrenze umgehen. Auf Höhe des Bohrturms hielt Winslow inne und drehte sich zu Shan um.
»Bleiben Sie hier«, sagte der Amerikaner. »Ich gehe runter und spreche mit Jenkins über Zhus Team. Vielleicht kann seine Sekretärin uns bei der Suche behilflich sein. Ich werde die Männer befragen, ohne daß Zhu etwas davon erfährt.«
Er wurde durch ein plötzliches Geräusch unterbrochen, den langsamen Schlag einer tiefen Trommel. Es schien direkt über ihnen am Hang zu ertönen, allenfalls hundert Meter entfernt. Die beiden Männer sahen sich an, und Shan machte einen Schritt auf das Geräusch zu. Winslow grinste und vollführte eine auffordernde Geste.
Shan rannte los. Wer auch immer die Trommel schlug, würde ein paar brechende Zweige oder sich lösende Steine vermutlich nicht hören. Das Trommeln wurde lauter, immer zwei schnelle Schläge gefolgt von einer kurzen Pause, so daß es mehr denn je an einen Herzschlag erinnerte. Shan suchte die Felsen ab, ohne etwas zu entdecken.
Auf einmal sprang etwas auf seinen Rücken. Ein Leopard, schrie eine Stimme in seinem Kopf, und schon lag er bäuchlings am Boden, spürte die Krallen auf seinem Rücken und schlug wild um sich. Er stöhnte verängstigt auf, rang nach Luft und bekam nichts als Erde zu fassen. Dann packte der Angreifer ihn seltsamerweise an den Armen und rollte ihn herum.
Es war ein Mann, sah Shan mit vor Schmerz getrübtem Blick. Schlug da immer noch die Trommel, oder hörte er nur sein eigenes Herz? Der Mann wirkte irgendwie vertraut und schien ihn ebenfalls zu erkennen, denn er keuchte auf und ließ ihn los.
Nein, es war kein Raubtier, sondern Dremu, der golok. Allerdings nicht der Dremu, den Shan gekannt hatte. Dieser Dremu vor ihm war heruntergekommen und ausgemergelt, nicht mehr als ein Schatten des stolzen Reiters, den Shan zuletzt am Morgen nach dem Diebstahl des Auges gesehen hatte.
»Es hieß, du seist geflohen«, sagte Shan.
Dremu hielt sich den ausgestreckten Zeigefinger an die Lippen. »Die verfluchten Soldaten haben mich erwischt«, flüsterte er. »Ich bin in der Nähe des Öllagers zwischen den Bäumen entlanggeritten und wußte nicht, daß dort Männer lauerten.«
Shan sah die dunklen Blutergüsse im Gesicht des golok. »Sie haben mich verprügelt und in einen der Arbeitstrupps gesteckt. Sogar mein Pferd haben sie genommen und es die Stämme ziehen lassen.«
Dremu schaute in Richtung des nahen Trommelns. Es war so laut wie nie zuvor. »Die wußten nicht, wen sie da gefangen hatten. Dachten wohl, ich sei bloß irgendein rongpa wie die anderen, die gehorsam alle Befehle befolgen. Ich bin weggelaufen. Aber vorher habe ich den rongpas noch erzählt, daß ihr Auge sich wieder im Tal befindet und alles beobachtet.«
»Wie bist du darauf gekommen?«
Shan sah den geschundenen golok durchdringend an. Stimmte Lhandros Verdacht? Hatte Dremu das Auge genommen?
»Weil das Herz des Tals wieder schlägt. Ich werde dir das Auge zurückholen, Chinese. Damit du dafür sorgen kannst, daß alles wie früher wird.«
Dremu deutete den Hang hinauf und schlich geduckt voran, wie ein Raubtier auf Beutezug. Shan folgte in wenigen Schritten Abstand.
Als Dremu um einen Felsvorsprung biegen wollte, um sich auf den Trommler zu stürzen, zuckte der golok zurück und hielt sich mit schmerzverzerrter Miene die Schulter. Das Trommeln hörte auf, und sie hörten jemanden weglaufen. Erschrocken sah Dremu seine Schulter an und nahm langsam
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