Das tibetische Orakel
die Hand weg. »Gepriesen sei Buddha! Ich dachte, mich hätte eine Kugel getroffen.«
Er bückte sich und hob einen runden Stein auf, der nicht zu den scharfkantigen Granitscherben am Boden paßte. »Eine Schleuder«, sagte er respektvoll und schaute sich vorsichtig um.
Mittlerweile war es still auf dem Hang; es schien niemand mehr da zu sein. Dremu rieb sich die Schulter und zögerte. In der Hand eines Könners war eine Schleuder so tödlich wie ein Gewehr. Gebückt tastete er sich auf die andere Seite des Felsens vor.
Es gab dort eine Reihe von Abdrücken von Stiefeln mit glatten Sohlen, wie die Tibeter sie trugen. Die meisten der Spuren waren eher klein.
»Kinder«, stellte Dremu fest, der neben den Abdrücken hockte. »Zwei oder drei Kinder.«
Er klang verwirrt. »Eventuell ein Erwachsener. Sie haben hier gesessen und gekniet.«
Er wies auf einige Stellen am Boden. Der Ort war gut gewählt, denn zwei große Felsplatten in seinem Rücken warfen den Schall in Richtung des Tals zurück. Ganz in der Nähe entdeckte Shan einige Grashalme, in die man winzige Knoten geschlungen hatte. In einen kleinen Felsblock davor war ein langes schmales Loch gemeißelt worden.
»Für das Auge«, sagte Dremu über Shans Schulter hinweg. Ja, der golok hatte recht. Das Auge war ins Tal zurückgekehrt, und jemand hatte versucht, eine neue Heimstatt dafür anzufertigen. Shan betastete die rauhen Umrisse des Lochs und betrachtete es nachdenklich, bis er plötzlich bemerkte, daß Dremu ihn anstarrte. Der golok schien auf weitere Anweisungen zu warten.
»Manche der Dörfler haben dich für den Dieb des Auges gehalten«, sagte Shan. »Ich werde ihnen berichten, daß das ein Irrtum war.«
Dremus Antlitz verfinsterte sich. »Das heißt, auch du hast daran geglaubt. Sonst hättest du sie längst vom Gegenteil überzeugt.«
Shan erwiderte nichts.
»Das hätte ich niemals getan. Nicht vor der Ankunft im Tal.«
»Soll das heißen, du hast es später an dich nehmen wollen?«
Der golok starrte ihn an. »Ich plane nie so weit voraus«, sagte er und lächelte matt. »Es ist nur so, daß. Ich glaube, um meines Vaters und meines Großvaters willen muß ich etwas unternehmen. Kannst du das verstehen?«
Shan nickte ernst, und Dremus Gesicht hellte sich auf. Er deutete den Hang hinunter. »Es sind Kranke ins Tal gekommen. Manche von ihnen hatten Kinder dabei. Und ein paar der Dorfkinder sind ebenfalls weggelaufen.«
Da erst erkannte Shan, daß Dremus gau und der kleine Beutel fehlten, die er beide um den Hals getragen hatte. »Du solltest etwas essen«, schlug er vor. »Und dich ausruhen.«
Aber er wußte nicht, wo die anderen Tibeter steckten und ob sie dem golok helfen würden. Zum Mischsims konnte er Dremu nicht schicken. Dort war Lhandro, der schon einmal mit Steinen nach ihm geworfen hatte. »Dieser Mönch Gyalo und sein Yak sind hoch oben auf den Bergkämmen unterwegs. Sie werden dir etwas zu essen geben. All die anderen sind geflohen. Und das solltest du auch tun, solange die Soldaten hier sind.«
»Nicht alle«, widersprach Dremu.
»Du meinst den Trommler.«
»Heute morgen auf dem Hang habe ich noch ein paar andere gesehen. Sie sind heimlich oben in den Felsen herumgeschlichen. Vielleicht haben sie vor, den Bohrturm zu beschädigen.«
»Purbas?« fragte Shan.
»Ich war ziemlich weit entfernt. Sie wirkten ganz unbekümmert, als wären die Soldaten ihnen gleichgültig. Vermutlich haben sie Schutzzauber dabei.«
Shan starrte den golok unschlüssig an. Dann forderte er ihn erneut auf, sich höher in die Berge zurückzuziehen, drehte sich um und eilte los. Er stieß auf einen Wildpfad und folgte ihm in Richtung Norden, wobei er auf den oberen Hängen nach Bewegungen und den Schatten von Höhleneingängen Ausschau hielt. Nach einigen Minuten tauchten vor ihm in der Ferne plötzlich zwei Gestalten auf. Sie schlenderten plaudernd daher und schienen den Boden abzusuchen. Shan versteckte sich zwischen zwei Felsen und wartete ab. Als die beiden Personen an ihm vorbeikamen, verwandelte seine Angst sich in Bestürzung. Einer der Männer sang ein tibetisches Pilgerlied.
Shan schob sich vor und lief los. »Lokesh!«
Ein Stück vor ihm drehte sein alter Freund sich lächelnd um. »Was für ein Glück!« rief Lokesh. »Du kannst uns helfen, Xiao Shan.«
Sein Begleiter wirkte belustigt und hob linkisch eine Hand zum Gruß. Tenzin.
»Helfen wobei?« fragte Shan wütend und sah sich nach einem Versteck für die Männer um.
»Das habe ich dir
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