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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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doch erzählt«, entgegnete Lokesh. »Wir suchen nach Heilkräutern. Tenzin möchte auch gern etwas über Kräuter lernen.«
    »In den Bergen, hast du gesagt.«
    Lokesh machte eine weit ausholende Geste. »In den Bergen rund um Yapchi«, sagte er wiederum grinsend. »Das weißt du doch bestimmt noch. Jokar Rinpoche hat gesagt, es würde diesem Offizier helfen. Sein Herzwind ist dermaßen schlimm, daß er sterben könnte.«
    »Verrat mir, wo die Kräuter sind«, bat Shan ihn inständig. »Ich hole sie dir, aber bitte kehr wieder um. Gleich jetzt.«
    Doch es war zu spät. Etwa dreißig Schritte vor ihnen tauchten zwei grünuniformierte Soldaten hinter einem Baum auf, gefolgt von einer Gestalt in weißem Hemd und sechs Tibetern. Shan erkannte den Mann in Weiß sofort.
    Direktor Tuan. Vier der anderen waren Ölarbeiter mit den grünen Jacken der Firma, die letzten zwei hingegen trugen Mönchsgewänder.
    Tenzin keuchte auf, packte Lokesh, zerrte ihn beiseite und deutete hastig auf die Bäume über ihnen, aber dann erschien nur zehn Meter vor ihnen ein weiterer Soldat und sprach schnell in ein kleines Funkgerät.
    Einen Augenblick später ertönte aus Richtung des Lagers eine Trillerpfeife, und Shan sah mehrere von Tuans Weißhemden den Hang hinauflaufen. Jede Flucht war unmöglich geworden. Die Soldaten und Schreihälse hatten gewonnen.
    Als die Häscher sie einkreisten, ließ Lokesh sich auf dem Boden nieder und stimmte ein Gebet an. Tenzin wirkte wie betäubt und schaute mit bitterem Blick von Shan zu Lokesh. Er schien um Verzeihung zu bitten.
    Doch keiner der Soldaten erklärte sie für verhaftet. Statt dessen zog Tuan einen Fotoapparat aus seiner Gürteltasche und machte einige Aufnahmen. Erst von Tenzin, dann von Lokesh und schließlich von den beiden Mönchen, die vortraten und sich neben Tenzin stellten.
    Einer der Männer umschloß Tenzins Finger mit beiden Händen. »Freu dich mit uns, Rinpoche«, sagte er fröhlich. »Unser Lehrer ist zu uns zurückgekehrt.«
    Rinpoche. Shan war verwirrter als je zuvor und starrte den Mönch an. Er hatte den Flüchtling Rinpoche genannt.
    Mit unverändert bitterer Miene wandte Tenzin sich dem Mönch zu und seufzte. »Ich bin nicht länger euer Lehrer«, sagte er mit seiner tiefen melodischen Stimme. »Ich bin wieder zum einfachen Novizen geworden und habe neue Lehrmeister gefunden.«
    Er deutete auf Lokesh und Shan.
    Der Mönch wirkte gekränkt. Lokesh hob verwundert den Kopf.
    Tuan verzog das Gesicht. »Der Abt von Sangchi wird sich bald wieder eines anderen besinnen«, verkündete er mit triumphierendem Lächeln und nickte seinen Leuten zu, während gleichzeitig mehrere Soldaten mit schußbereiten Waffen eintrafen. Einer von ihnen trat vor und legte Tenzin eine Handschelle an. Dann bückte er sich, packte Lokesh grob am Arm und ließ die zweite Handschelle am Gelenk des alten Tibeters einrasten.
    »Wir brauchen dich, Rinpoche«, sagte einer der Mönche schluchzend. Direktor Tuan gab den Männern ungeduldig ein Zeichen. Die Soldaten zerrten Lokesh auf die Beine, so daß er sein Mantra abbrach.
    Starr vor Verblüffung sah Shan dabei zu, wie Lokesh und der Abt von Sangchi den Pfad zum Öllager hinuntergeführt wurden.

Kapitel 14
    Von den Lamas wußte Shan, wie er den Lügen, die einst sein Leben bestimmt hatten, mutig begegnen konnte und was er tun mußte, um diese Lügen hinter sich zurückzulassen. Zum Beispiel die Lüge, daß er während seiner zwanzig Jahre als Ermittler in Peking irgend etwas bewirkt hätte. Die Lüge, daß er und seine Frau - oder wenigstens er und sein Sohn - sich eines Tages versöhnen und wieder vereint sein würden. Und die Lüge, daß seine Entlassung aus dem Gulag bedeutete, er könne den Rest seines Lebens in Freiheit verbringen. Er hatte inzwischen akzeptiert, daß er am Ende wieder in einem Arbeitslager landen würde. Bei dem Leben, das er gewählt hatte, war dies so unausweichlich wie der Tod, und vielleicht mehr als alles andere hatten die Tibeter ihn gelehrt, nicht nur die Furcht abzulegen, sondern sich in das Unvermeidliche zu fügen.
    Dennoch klammerte er sich aus irgendeinem Grund an die Einbildung, Lokesh könne nicht angetastet werden, weil Peking bereits mehr als genug von ihm erhalten hatte, nämlich fünfunddreißig Jahre seines Lebens.
    Doch Lokesh würde nicht überleben. Er befand sich nun wieder in der Gewalt von Soldaten und Schreihälsen, denen man erzählt hatte, der Abt von Sangchi sei von purbas entführt worden. Die beiden

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