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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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würden bis auf weiteres zusammenbleiben. Man konnte Lokesh leiden lassen, ihn quälen und foltern, um Tenzin abzunötigen was auch immer man von ihm wissen wollte. Obwohl nur wenige Tibeter Geheimnisse unter der Folter preisgaben, fügten sie sich häufig, sobald andernfalls ein Freund mißhandelt wurde.
    Shan mischte sich unter die Menge, die sich bei Ankunft der neuen Gefangenen gebildet hatte. Niemand fragte ihn etwas. Niemand kam, um ihm Fesseln anzulegen. Tuan hatte Shan kaum zur Kenntnis genommen. Die Aufregung über die Entdeckung des berühmten Abtes von Sangchi schien alles andere zu überlagern.
    Er war mit Blindheit geschlagen gewesen. Gendun und Shopo hatten es gewußt. Jemand sei gestorben, hatte Gendun gesagt und damit gemeint, daß der Abt nicht mehr existierte und Tenzin versuchte, ein neues Leben zu beginnen. Shan erinnerte sich, was Tenzin an jenem Tag am roten Fluß zu ihm gesagt hatte. Es sei möglich, noch im selben Körper eine neue Inkarnation anzufangen, das wisse Shan aus eigener Erfahrung. Er mußte an vieles zugleich denken: an Tenzins Trauer über Draktes Tod, an die verbitterte Geste, mit der er einen Felsen in den See geworfen hatte, als Shan andeutete, ein Kiesel könne seine Schuld in sich aufnehmen, an die unzähligen Säcke voller Dung. Shan hatte geargwöhnt, Tenzin sei der berüchtigte Tiger, der nach einem Leben voller Gewalt Buße tun wolle. Doch auf der Seele des Abtes von Sangchi hatte eine andere dunkle Last geruht und ihn zu einem Neuanfang bewogen. Und nun zerrte man ihn in Ketten zurück in das Gefängnis, dem er entflohen war.
    Als die Soldaten ihre Gefangenen an den Armeezelten vorbeiführten, kam es zu einem Zwischenfall. Ein bulliger Soldat, in dem Shan Lins Sergeanten wiedererkannte, rief, daß diese Häftlinge der 54. Gebirgsjägerbrigade zustünden. Die Schreihälse ignorierten ihn und schoben die beiden Männer weiter auf einen der weißen Geländewagen zu. Tuan blieb dicht bei Tenzin und schirmte ihn mit vier seiner Leute ab, während der Sergeant partout keine Ruhe geben wollte. Schließlich trat einer der Weißhemden an seine Seite, sprach leise mit ihm und reichte ihm eine Visitenkarte. Shan wollte sich den beiden nähern, um das Gespräch zu belauschen, doch jemand packte ihn an der Schulter.
    »Sie wollen wohl unbedingt Selbstmord begehen.«
    Winslow zog ihn beiseite. »Jenkins hat mir erzählt, was er weiß. Sie stehen bei der 54ten ganz oben auf der Liste. Man kennt Ihren Namen und hält Sie für einen entflohenen Sträfling, der Lin entführt hat. Es sind bereits weitere Truppen unterwegs, um nach Lin und Ihnen zu suchen.«
    Shan ließ sich von Winslow wegführen und beobachtete wie betäubt, daß Lokesh und Tenzin vor den weißen Fahrzeugen abermals fotografiert wurden. Um den Schein zu wahren, hatte man ihnen die Handschellen abgenommen und durch Fußfesseln ersetzt, weil die Schreihälse den Abt auf ihren Bildern nicht in Ketten zeigen wollten. Shan war noch immer bestürzt und protestierte nicht, als Winslow ihn auf die Ladefläche eines Lastwagens drängte und selbst mit einstieg. Er merkte kaum, daß der Wagen losfuhr, und wollte nach Lokesh rufen, aber sein Mund war zu trocken.
    Shan starrte von der Ladefläche nach hinten und sah, wie das Lager verschwand. Man würde Lokesh und Tenzin in ein Gefängnis der öffentlichen Sicherheit bringen, das vermutlich in der nächsten größeren Stadt lag. Er zog die Landkarte hervor, die er aus Jenkins' Besprechungsraum mitgenommen hatte. Wenquan, vielleicht auch Yanshiping. Er würde einfach abspringen, sobald sie durch eine Stadt kamen. Doch womöglich brachten die Soldaten ihre Gefangenen direkt nach Lhasa, also in südliche Richtung. Also sollte er sich lieber sofort davonmachen. Und dann? Mit Steinen werfen, wenn die Soldaten an ihm vorbeirasten?
    »Am besten versuchen wir, ein wenig zu schlafen«, sagte Winslow, als der Lastwagen in eine schmale Schlucht einbog, die mit steilem Gefalle aus den Bergen hinausführte.
    »Schlafen?« fragte Shan verwirrt.
    Winslow deutete auf die Karte in seiner Hand. »Bei unserer Ankunft wird es schon ziemlich spät sein. Die Fahrt dauert mindestens sieben Stunden - wenn man gut durchkommt.«
    Shan sah sich auf der Ladefläche um. An der Rückwand des Führerhauses hatte man ein paar Kartons aufgestapelt und mit einer Schnur an den seitlichen Streben verzurrt. Es lagen einige Seile und schmutzige Overalls herum, dazu mehrere leere Frachtpaletten, auf denen in

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