Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
»Aber irgendwer hat es herausgefunden. Vielleicht hat ihn jemand gesehen, mit dem wir nicht gerechnet haben. Wir dachten, man würde nur im Süden nach ihm suchen. Und wir haben geglaubt, er würde in der Einsiedelei und später bei der Karawane in Sicherheit sein.«
    »Wer hat ihn in Lhasa oder bei der Flucht über die Changtang gesehen? Wann hat er Lhasa verlassen? Gab es ein Treffen oder eine Besprechung, bei der Leute aus dem Norden ihn gesehen haben könnten?«
    »Diese Klarheitskampagne. Als sie begonnen wurde, fand eine große Versammlung statt. Der Abt von Sangchi hielt eine Rede und verschwand zwei Tage später von der Bildfläche, noch vor dem Ende der Konferenz.«
    »Oberst Lin«, schlug Winslow vor. »Er ist aus Lhasa nach Yapchi gekommen.«
    Somo schüttelte den Kopf. »Die meisten seiner Soldaten sind weiterhin im Süden und suchen nach purbas , die Tenzin über die Grenze bringen wollen. Als ob Lin unseren Schwindel aktiv unterstützen würde. Er muß wegen des Steins nach Norden gekommen sein. Bestimmt wußte er, daß man ihn ins Tal zurückbringen würde. Womöglich ist er irgendwie davon besessen.«
    »Nein«, sagte Shan. »Der Stein ist nicht der Grund. Ganz gleich, was die Tibeter von der chenyi-Gottheit halten mögen, für Lin ist es bloß ein Stein. Drakte hat das Auge gestohlen. Und er war dabei nicht allein.«
    Er zeigte Somo das Foto, das er in der Tasche des Obersts gefunden hatte. »Deshalb hat Lin sich so sehr für das Auge interessiert - weil es ihn zu Tenzin führen würde.«
    Die purba sah ihn nachdenklich an. Sie wirkte nicht überrascht, sondern schien sich zu fragen, wie viele Geheimnisse sie noch preisgeben durfte. »Also gut. Tenzin hat etwas mitgenommen, geheimes Material über die Soldaten der 54. Gebirgsjägerbrigade.«
    »Tenzin?« fragte Shan. »Er ist kein Spion.«
    »Nein«, bestätigte Somo. »Ich weiß nicht, was es war. Nach der Art zu schließen, wie Drakte davon erzählt hat, hatten sie es nicht geplant. Er war deshalb wütend auf Tenzin. Vermutlich wollte der Abt den purbas bei irgend etwas helfen, weil sie seine Flucht ermöglichten.«
    Für Lin würde der Abt dennoch ein Spion sein, wußte Shan. Es verlieh der Angelegenheit eine persönliche Komponente. Tenzin hatte Schande über den Oberst gebracht, oder - was noch viel schlimmer wäre - er besaß Informationen, die der gesamten Armee schaden konnten. »Lin will sich selbst schützen«, sagte Shan im selben Moment, in dem ihm dieser Gedanke kam. »Er hat seinen Vorgesetzten nichts davon erzählt und versucht die entwendeten Unterlagen zurückzuholen, bevor sie Unheil anrichten können. Falls das Oberkommando der Armee befürchten würde, der flüchtende Abt könnte Militärgeheimnisse mit sich führen, wären längst mehr Suchtrupps ausgeschickt und überall Straßensperren errichtet worden.«
    »Aber warum hat Tenzin geglaubt, es sei ausgerechnet heute gefahrlos möglich, nach Yapchi zu kommen?« fragte Winslow.
    »Das hat er vielleicht gar nicht. Jokar hat gesagt, für Lins Genesung seien Heilkräuter aus dem Tal von Yapchi erforderlich. Ich hätte es wissen müssen. Der Mann, der Tenzin gern werden möchte, würde so etwas tun, von Lokesh ganz zu schweigen.«
    Winslow sah Shan traurig an. Der fliehende Abt war gefangen worden, weil ein uralter Lama-Heiler um Kräuter für die Behandlung eines verletzten chinesischen Obersts gebeten hatte. Shan mußte unwillkürlich an jemand anderen denken. »Haben Sie Gendun und Drakte zu dem durtro begleitet, wie Sie es vorhatten?« fragte er Somo.
    Sie nickte. »Hirten, viele Hirten sind gekommen und haben gebetet und davon erzählt, was für ein tapferer Mann Drakte gewesen ist. Gendun ist hinterher noch dageblieben. Er sagte, Drakte habe viel Schlimmes durchmachen müssen, und er würde nun mit Shopo die Zeremonie fortsetzen. Ich glaube, damit war das vollständige Ritual gemeint.«
    Traditionell dauerten die Todesriten neunundvierzig Tage an. Somo schaute zu einer Bergkette, die hinter ihnen in der Ferne zurückfiel. »Da war noch etwas. Ich schätze, es hatte nicht wirklich etwas zu bedeuten, aber als ich aufbrechen wollte, sprach Gendun mich an. Er sagte, wir alle müßten lernen, die Toten besser zu verstehen, und er habe etwas über Drakte herausgefunden. Ich soll Ihnen etwas geben.«
    Sie griff in die Tasche und holte einen chakpa heraus, einen der bronzenen Sandtrichter.
    Shan starrte den Trichter an und mußte mit Wehmut daran denken, wie Gendun ihn im Gebrauch

Weitere Kostenlose Bücher