Das tibetische Orakel
Nacht gesehen hatten. Der Wagen wurde erneut langsamer, und auf ein Zeichen von Somo sprangen sie alle ab.
»Wieso sind wir nicht einfach hinten eingestiegen?« fragte Winslow und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Somo deutete auf das Haupttor, wo der Mülltransporter soeben anhielt. Dort standen zwei Armeelaster, und sie sahen eine Handvoll Soldaten neben mehreren Männern in braunen Jacken.
»Ein Kontrollpunkt. Seit heute morgen wird jeder Wagen von der Armee überprüft. Von der 54. Gebirgsjägerbrigade.«
Sie drehte sich um und führte die beiden zwischen die abgestellten Fahrzeuge. Hinter der Schaufel eines riesigen Bulldozers gingen sie in Deckung.
Dort im Schatten erklärte Somo ihnen hastig, daß Larkin sich letzten Monat tatsächlich hier in der Zentrale aufgehalten hatte, als alle sie in den Bergen bei Yapchi vermuteten. Und sie hatte den Computer nicht nur dazu benutzt, ein paar E-Mails zu verschicken. Die amerikanische Geologin war zu dem einzigen Terminal des gesamten Projekts gegangen, von dem aus sich eine direkte Verbindung mit dem Zentralrechner ihrer amerikanischen Firma herstellen ließ, und hatte zwei Stunden lang geologische Daten übermittelt.
»Aber warum?« fragte Winslow. »Mit Sicherheit hat sie kein geheimes Ölvorkommen entdeckt. Was könnte so geheim und dringend sein?«
»Und was noch wichtiger ist.«, sagte Shan. »Was könnte eine amerikanische Geologin irgendwo in den Bergen anstellen, daß Zhu ihren Tod will?«
»Modelle erstellen«, erklärte Somo verwirrt. »Dafür wird dieser große Computer in Amerika benutzt. Er errechnet Modelle aus geologischen Daten.«
»Aber was, zum Teufel, ist daran bloß so geheim?«
Winslow runzelte die Stirn. »Sie arbeitet für eine Ölfirma. Und weshalb ausgerechnet dieser Computer in den Vereinigten Staaten?«
»Danach habe ich mich erkundigt«, sagte Somo. »Man füttert ihn mit seismischen Daten, und dann ermittelt er daraus die Wahrscheinlichkeit neuer Ölvorkommen und berechnet die geologische Struktur des Gebiets voraus, um das es geht.«
Sie zuckte die Achseln. »Manche Geologen benutzen diese Methode häufig. Larkin hat schon oft darauf zurückgegriffen. Außerdem sind Ölfirmen sehr auf die Wahrung ihrer Geheimnisse bedacht. Sie möchten nicht, daß jemand anders erfährt, was sie gefunden haben.«
Shan erinnerte sich daran, wie Jenkins die Amerikanerin beschrieben hatte. Larkin war eine Perfektionistin. »Aber sie brauchte doch sicherlich eine Erlaubnis«, vermutete er. »Jemand muß ihr eine Freigabe zur Nutzung des Computers erteilt haben.«
Somo seufzte. »Ja und nein. Es gibt Zugriffscodes, ohne die das Programm sich nicht starten läßt. Wer die Codes kennt, hat dadurch automatisch das Recht zur Nutzung.«
»Und Larkin kannte die Codes.«
»Der von ihr benutzte Code ist auf den Namen von Mr. Jenkins registriert, aber der war zu diesem Zeitpunkt in Yapchi.«
»Vielleicht hatte er die Sache genehmigt«, sagte Winslow.
Shan sah Somo an. »Warum hat man Ihnen so bereitwillig über den Computer Auskunft erteilt? Sie sind eine Fremde.«
»Nicht für jeden hier.«
»Andere purbas?« fragte Shan.
Somo antwortete nicht.
Plötzlich erklang das Dröhnen eines Motors. Ein grauer Geländewagen raste vorbei.
»Man sucht nach uns«, sagte Shan.
»Wir hauen ab«, sagte Winslow. »Zurück nach Yap- chi.«
»Es gibt keine Transportmöglichkeit«, sagte Somo und suchte beunruhigt das Gelände ab. »Der nächste Wagen nach Yapchi fährt erst in zwei Tagen. Und auch dann wird die Armee noch am Tor stehen.«
»Wir müssen weg«, beharrte Winslow und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Wir müssen verhindern, daß Melissa noch einmal stirbt.«
Mehr als eine Stunde saßen sie hinter der Bulldozerschaufel und hörten den Geländewagen immer wieder über den Platz und einige Male die Zufahrtsstraße entlangfahren. Gedankenverloren starrte Winslow auf den roten Lehmboden. Shan holte die elfenbeinerne Gebetskette aus der Tasche und rollte die Perlen zwischen den Fingern.
»Ich habe einige Leute hier nach Tenzin gefragt«, erinnerte Somo sich unvermittelt. »Niemand hat bislang etwas davon gehört, daß der Abt von Sangchi gefunden oder nach Lhasa zurückgebracht worden sei. Er ist ein berühmter Lama, und das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat große Stücke auf ihn gehalten. Letztes Jahr ist der Leiter meiner Schule aus Protest zurückgetreten und wollte nach Indien fliehen. Er wurde erwischt, aber man hat ihn nicht ins
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