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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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was sie in Golmud herausgefunden hatten. Die amerikanische Geologin lauschte ihm schweigend und schenkte unterdessen drei Becher schwarzen Tee ein. Einer der Männer lief von der Karte zur Rückwand, nahm ein automatisches Gewehr, eine Armeewaffe, und verschwand hinter dem Vorhang am Eingang.
    »Eine Falle?« fragte Larkin. »Das klingt ein bißchen melodramatisch.«
    »Ich arbeite jetzt seit mehr als fünf Jahren in China«, sagte Winslow. »Sie sind fast genauso lange in China und Tibet unterwegs. Was daran glauben Sie mir nicht? Daß die Firma Sie abgeschrieben hat? Daß die Chinesen Sie davon abhalten wollen, mit gewissen Tibetern zusammenzuarbeiten? Daß Genosse Zhu sich die Mühe macht und selbst in die Berge reist, anstatt einfach die Armee zu schicken? All die anderen mögen Sie für tot halten. Zhu weiß es besser. Er hat mich, Jenkins und auch jeden sonst angelogen, weil wir genau das glauben sollten.«
    Larkin lächelte, als würde sie Winslows Warnung amüsant finden. Sie winkte Somo zu der Landkarte und dem Mann, der weiterhin dort stand, trat selbst hinzu und beriet sich leise und hastig mit den purbas.
    Shan starrte den Computer und die Reagenzgläser an. Auf dem Tisch lag eine weitere Karte der Region, auf der man mit mehreren leuchtenden Farben dicke Linien eingezeichnet hatte. Er trat näher und nahm sie genauer in Augenschein. Am Ende jeder Linie stand eine Nummer. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Er hob den Kopf und bemerkte, daß die Amerikanerin mit der grünen Jacke und den grünen Augen vor ihm stand und ihn ansah.
    »Sie sind die Grüne Tara«, erklärte Shan. »Ihnen bringt man das Wasser.«
    »Dieser Name war nicht meine Idee. Er ist mir eher unangenehm«, sagte Larkin.
    »Eine Schutzgöttin.«
    Winslow grinste unaufhörlich. Er war wegen einer Leiche nach Tibet gekommen und hatte statt dessen eine lebendige Frau entdeckt.
    Shan bemerkte, daß eine kurze Linie auf der Karte, versehen mit der Nummer Sieben und eingezeichnet auf dem Berg direkt über ihnen, nur zweieinhalb Zentimeter lang war und dann als rote gestrichelte Linie noch weitere fünf Zentimeter maß. »Sie zeichnen die Wasserläufe ein«, stellte er verwirrt fest. An der hinteren Wand standen mehrere lange Plastikröhren mit buntem Pulver. »Sie schütten Farbmarkierungen ins Wasser. Aber die Flüsse wurden doch bereits kartographisch erfaßt. Warum also?«
    »Nicht alle Flüsse sind bekannt«, sagte die Amerikanerin. »Nicht dieser. Nicht der Fluß Yapchi.«
    »Der Yapchi?«
    »So heißt er bei uns.«
    »Was hat ein Fluß in den Bergen mit Öl zu tun?«
    Larkin seufzte. »Haben Sie eine Vorstellung, wie wenige geologische Rätsel es auf diesem Planeten gibt? Ich meine die wirklich wichtigen ungelösten Fragen. Vor hundertfünfzig Jahren kannte man weder die Quellen der meisten großen Flüsse noch hatte man auch nur in der Theorie etwas von tektonischen Platten gehört. Viele der höchsten Gipfel warteten noch auf ihre Entdeckung. Ausgedehnte Regionen mußten kartographiert werden. Was ist heute noch davon übrig, abgesehen vom Grund des Ozeans? Ich hätte nie darauf zu hoffen gewagt, etwas dermaßen Aufregendes erleben zu dürfen, aber dann kam ich ins Lager Yapchi.«
    Ihr Blick richtete sich auf Somo und die anderen purbas , die noch immer leise miteinander sprachen. »Nach vier Tagen auf diesem Berg wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Es kam viel zu wenig Wasser herunter, wenn man die Größe der Schneekuppe und die Dimension des Einzugsgebiets bedachte.«
    »Sie meinen, Sie haben diesen Fluß entdeckt? Aber es ist kein Fluß. Ich glaube.«
    »Er ist es, und er ist es zugleich nicht. Es ist ein versteckter Fluß. Ein vergrabener Fluß. Das Wasser strömt fünf Kilometer den Berg herunter und schießt dann in diese Schlucht. Das kann nicht sein, dachte ich zuerst. Ein zufälliges Ereignis, vielleicht nur vorübergehend eingetreten, weil in diesem Jahr irgendwo ein Felsrutsch das eigentliche Flußbett blockiert hat. Die Natur schickt keine Wassermassen in Schluchten ohne Ablauf.«
    »Soll das heißen, er fließt von hier an unterirdisch weiter?« fragte Shan. »Das würde einen neuen Eintrag in die Karten dieser Region bedeuten.«
    »Wie am oberen Tsangpo.«
    Winslow stieß einen leisen Pfiff aus. »Sie werden sich damit einen Namen machen«, sagte er respektvoll.
    Melissa Larkin wirkte im ersten Moment überrascht und nickte dann anerkennend. Ein paar Jahre zuvor hatten einige amerikanische Forscher internationale

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