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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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widerstrebend die Achseln, nickte jedoch langsam, als die beiden Männer sie forschend ansahen. »Ich weiß keine Einzelheiten. Das ist ein anderes Projekt, betreut von einem anderen Team. Es würde unsere Sicherheit gefährden, falls jeder wüßte, was der andere gerade macht.«
    Shan nickte. »Flüsse«, sagte er. »Wir wissen, daß sie Flüsse markiert. Wir wissen, daß die Tibeter den Flüssen Wasser entnehmen.«
    Er bat Winslow um die Karte und fuhr mit den Fingern jede der blauen Linien nach, die ringsum aus den Bergen entsprangen. Dann stieg er auf den Felsvorsprung und konnte zwei der schmalen Wasserläufe ausmachen, die aus den engen Schluchten zum Vorschein kamen und nach Westen und Süden flossen.
    »Sie soll morgen an dieser Stelle auftauchen«, sagte Winslow. »Noch ist sie nicht hier. Und es ist eher unwahrscheinlich, daß sie die ganze Nacht durchs Gebirge klettern wird, also hält sie sich vermutlich in höchstens einer halben Tagesreise Entfernung auf.«
    Er zog mit dem Finger einen großen Kreis auf der Landkarte. »Im Westen würde sie sich allerdings außerhalb des Konzessionsgebiets befinden«, fügte er hinzu.
    »Die Himmelsgeburt«, sagte er einen Moment später. »Dieser Mann, der die Flasche zur Grünen Tara bringen wollte, hat irgendwas von einer Himmelsgeburt erzählt.«
    Er runzelte die Stirn und suchte den Horizont ab.
    Plötzlich hob Shan den Kopf und deutete auf den Hauptgipfel des Bergs Yapchi. »Wir wissen, wo der Himmel geboren wird«, verkündete er mit einem Lächeln.
    Nach drei Stunden Marsch zweifelten sie immer mehr daran, daß es ihnen gelingen würde, den gesuchten Ort zu finden. Sie stiegen soeben einen Hang hinab, als unter ihnen auf einem Seitenpfad unversehens ein tibetischer Jugendlicher angelaufen kam. Er hatte kein Gepäck und nicht einmal einen dicken Mantel dabei, hielt aber etwas umklammert. Shan sah Winslow an, der sich mit verzerrter Miene die Schläfen rieb, und dann Somo. Sie zog ihre Schnürsenkel fest, nahm sich die Tüte Kartoffelchips und eilte den Hang hinunter.
    Winslow schluckte zwei seiner Tabletten und beobachtete dann gemeinsam mit Shan, wie die purba-Läuferin sich dem Jungen näherte. Als noch etwa zweihundert Meter vor ihr lagen, verschwand der Tibeter hinter einem Grat.
    Shan und Winslow folgten den beiden. Als sie die Kammlinie überquerten, stieß der Amerikaner einen Freudenschrei aus, sein merkwürdiges Cowboy-Gejohle. Ein gutes Stück vor ihnen saß Somo mit dem Jungen zusammen. Als sie sich näherten, konnten sie erkennen, daß der Jugendliche sich die Chips in den Mund stopfte und dabei ganz entspannt mit Somo plauderte. Doch noch bevor sie in Hörweite kamen, stand der Tibeter auf, winkte den zwei Männern fröhlich zu und lief weiter.
    »Er hatte eine Flasche Wasser dabei«, sagte Somo bedeutungsvoll. »Bloß eine kleine Flasche Wasser für die Grüne Tara.«
    Sie folgten dem Pfad, den der Junge eingeschlagen hatte, bis Somo ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang die Hand hob. Von dem Berg vor ihnen erklang ein Geräusch wie Donnerhall. Shan bedeutete der purba , sie sollten weitergehen, und wenig später betraten sie ein ungeschütztes Sims, von dem aus sie hören konnten, daß der Ursprung des Donners weit unter ihnen lag. Shan wies auf eine hauchdünne dunkle Linie an der gewaltigen Felswand über ihren Köpfen.
    »Das ist dieser verdammte Ziegenpfad, auf dem Chemi uns nach Yapchi geführt hat«, sagte Winslow. Sie standen am Rand jener breiten U-förmigen Kluft voller Dunst, die Chemi ihnen letzte Woche von viel weiter oben als den Ort beschrieben hatte, an dem die Wolken gemacht würden.
    Somo deutete nach unten. Auf der anderen Seite der Schlucht und bedeutend tiefer folgte der tibetische Junge einem gewundenen Pfad, der im Nebel verschwand. Eine halbe Stunde später erreichten sie dieselbe Stelle. Die Sonne ging unter, und vor ihnen im Dunst wurde das Donnern immer lauter, während sie auf dem schlüpfrigen Untergrund vorsichtig nach Halt suchen mußten und sich dicht an die Felswand drängten. Was hatte Chemi noch über diesen Ort erzählt? Manche Leute behaupteten, dort hause ein Dämon.
    »Wir können im Dunkeln nicht wieder nach oben klettern«, warnte Winslow und rieb sich abermals die Schläfen.
    Shan musterte unsicher den tückischen Pfad. »Der Junge ist auch nicht zurückgekommen«, sagte er dann und drang weiter in den Nebel vor.
    Nach einer Weile wurde die Sicht besser, und sie erblickten eine brodelnde Wassermasse,

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