Das tibetische Orakel
einen schmalen, schnell strömenden Flußlauf, der in die Schlucht stürzte und sich in einem gewaltigen Strudel selbst zu verzehren schien. Es gab keinen Ablauf. Das einzige Wasser, das die Kluft verließ, schien dies in Form der kleinen Wolken zu tun, die sie aufsteigen gesehen hatten.
Somo verfolgte das seltsame Geschehen aus weit aufgerissenen, verängstigten Augen. »Es könnte wahr sein, was man sich erzählt«, flüsterte sie und meinte damit, daß an diesem sonderbaren machtvollen Ort tatsächlich ein Dämon zu Hause sein könnte. Shan widerstand dem Impuls, in den Nebel zurückzuweichen und sich dort zu verstecken.
Auf einmal war inmitten des Donners ein lauter Knall zu vernehmen, und neben Shan splitterte ein Stück der Felswand ab. Gleich darauf passierte dicht neben Winslow das gleiche, gefolgt vom schrillen Heulen eines Querschlägers. Jemand schoß auf sie.
Kapitel 15
Winslow duckte sich und deutete auf ein Loch in der Felswand unter ihnen, aus dessen Schatten ein Gewehrlauf ragte. Fluchend wollte er seinen Rucksack öffnen. Shan erinnerte sich wieder an Lins Pistole und drückte Winslows Arm herunter.
Somo zog ihre grüne Jacke aus. »Lha gyal lo!« rief sie, reckte eine Hand in die Luft und griff mit der anderen nach dem gau , das um ihren Hals hing.
Ein Tibeter stürmte mit schußbereiter Waffe aus dem Halbdunkel vor. Er starrte den Neuankömmlingen entgegen, runzelte wütend die Stirn, nickte Somo zu und winkte sie mit dem Lauf des langen Gewehrs zu sich heran. Als Shan dem gewundenen Pfad nach unten folgte, sah er, daß das Loch im Felsen genaugenommen eine Nische von drei Metern Höhe und zehn Metern Länge war. Der Fluß mußte hier einst die Wand ausgewaschen haben. Der Mann wartete auf sie, tauschte flüsternd ein paar Worte mit Somo aus und führte sie dann zu einem dunklen Fleck, der sich als schwere Decke erwies, die an einem im Fels verkeilten Holzbalken hing.
Dahinter folgten sie einem kurzen Gang, schoben den nächsten Vorhang beiseite und betraten ein hohes, etwa zwölf Meter breites Gewölbe, das von mehreren hellen Gaslaternen beleuchtet wurde.
In der Nähe des Eingangs saß der tibetische Junge und beobachtete mit großen Augen die Vorgänge im Raum. Zwei junge Männer, einer davon ein purba , den Shan bei Tenzin gesehen hatte, standen über eine Landkarte gebeugt, die auf einem großen Felsen lag. Auf einem provisorischen Tisch, bestehend aus einigen langen Brettern über zwei Stapeln flacher Steine, stand ein aufgeklappter Laptop-Computer, dessen Monitor in vielen farbigen Schichten den dreidimensionalen Querschnitt eines Berges anzuzeigen schien. An der Rückwand lehnten mehrere Gewehre. Hinter dem Computer sah Shan zwei Tibeter, die jeder in ein Mikroskop schauten. Eine dritte Person, bekleidet mit einer grünen Jacke, stand neben einem Gestell mit Reagenzgläsern und notierte sich etwas auf einem Spiralblock.
Winslow keuchte unwillkürlich auf. Die Gestalt in Grün hob den Kopf und drehte sich langsam um. Es war eine Frau mit zerzaustem, lockigem rotblondem Haar, das im Nacken zu einem kurzen Zopf geflochten war. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Verwirrt starrte sie aus grünen Augen Winslow an.
»Dr. Larkin, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Amerikaner leise auf englisch und lächelte verlegen. Zum erstenmal seit Shan ihn kannte, schienen Winslow die Worte zu fehlen. Die Frau war nur unwesentlich kleiner als er und ungefähr zehn Jahre jünger. Ihre hohen Wangenknochen hätten sie anmutig wirken lassen, wären da nicht die vielen Sommersprossen gewesen.
Sie warf den beiden Tibetern bei der Karte einen verdrießlichen Blick zu, dann dem Wachposten, der am Eingang stehengeblieben war. »Sie sind der Kerl von der Botschaft«, sagte sie auf englisch und musterte ihren Landsmann auf seltsame Weise. Nicht wütend oder enttäuscht, sondern als habe er etwas an sich, das sie verblüffte. »Die Tibeter nennen Sie den Cowboy. Es hieß, Sie seien abgereist.«
»Das war ich auch«, sagte Winslow noch immer grinsend. »Aber ich bin zurückgekommen. Um Sie zu warnen.«
Melissa Larkin runzelte die Stirn und sah erneut zu den Männern bei der Karte. »Wir befinden uns nicht in Gefahr«, sagte sie. »Genosse Zhu war so freundlich, bereits meinen Tod zu vermelden.«
»Nur um selbst freie Hand zu haben«, erklärte Winslow. »Genosse Zhu möchte Sie noch einmal tot sehen.«
Er sprach auf tibetisch weiter und erläuterte,
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