Das tibetische Orakel
wütend darauf und blätterte dann das oberste Exemplar durch. Man hatte viele Computergrafiken verwendet und verglich anhand der Kurven, Tabellen und Kreisdiagramme zumeist die gegenwärtige Wirtschaftslage mit den Daten der zurückliegenden Jahre. Dem Bericht nach war der Bezirk ein wahres Entwicklungswunder. Die Gerstenproduktion hatte sich vervierfacht, die Schafherden verdreifacht und die Zahl der Ziegen nahezu verfünffacht. Die ernsten Gesundheitsprobleme, die früher zur Schwächung der Bevölkerung geführt hatten, konnten erfolgreich behandelt werden. Spannungen zwischen den diversen Volksgruppen traten ebenfalls nicht mehr auf.
Neben dem Stapel lag ein kurzes Fax der Zentrale des Büros für Religiöse Angelegenheiten, in dem Khodrak und Tuan zum Erfolg der Klarheitskampagne gratuliert wurde, verbunden mit der Anmerkung, ihre Vorschläge hätten in Lhasa und Peking begeisterten Anklang gefunden. Lhasa freue sich bereits darauf, bekanntgeben zu können, daß man Norbu bewilligen werde, demnächst eine neue Bildungsanstalt für tibetische Kinder zu eröffnen. Eine Schule. Das war der Grund, aus dem Tuan erzählt hatte, es würde hier bald mehr Lehrer geben, und deshalb hatte Drakte sich auch so sehr über Khodraks gefälschte Daten geärgert. Unterzeichnet hier in dem Buch, oder all eure Kinder werden euch später hassen, hatte er zu den Leuten im Lamtso Gar gesagt.
Shan verharrte einen Moment an der Tür, schaute zur Tafel und trat dann auf den immer noch leeren Korridor hinaus. Er atmete tief durch, ging in das Büro und achtete darauf, sich nicht dem Fenster zu nähern. Draußen saßen mehr als hundert Leute und starrten den Lautsprecher an. Seine Hoffnung bewahrheitete sich. Niemand hatte es gewagt, im Innern zu bleiben und weiterzuarbeiten, wenn es galt, dem Vorsitzenden Achtung zu bezeugen. Sein Blick schweifte durch den Raum. Über einem Aktenschrank waren mit Klebeband zwei Fotos befestigt. Eines hatte man vor weniger als zwei Wochen in dem Besprechungszimmer aufgenommen; es zeigte Tenzin. Daneben hing ein Zeitungsfoto, auf dem Tenzin mit kahlgeschorenem Kopf und Mönchsgewand zu sehen war, wie er mehrere wichtig wirkende Han-Chinesen begrüßte. Das tibetische Volk heißt den Vize-Premierminister willkommen , lautete die Schlagzeile. Über der Tür, so daß man es vom Gang aus nicht sehen konnte, hing ein kleines Banner mit ausschließlich chinesischer Aufschrift. Gezielter Schlag. Es war der Name einer der aggressivsten antitibetischen Pekinger Kampagnen der letzten Jahre, in deren Verlauf die Schreihälse und Kriecher vorübergehend mit vereinten Kräften versucht hatten, die Gebetskette aus den Händen des Landes zu reißen.
Shan sah auf die Uhr. Somo und ein weitere purba dürften in diesem Moment über die hintere Klostermauer klettern, beide gekleidet in Uniformen der 54. Gebirgsjägerbrigade. Auf einmal brandete Applaus auf, sowohl im Radio als auch draußen. Shan rannte zu einem großen Büro am anderen Ende des Flurs, von dessen Fenstern aus man den Hof überblicken konnte, und bekam gerade noch mit, daß Tenzin von einem der Kriecher-Wachposten um die Ecke geführt wurde. Vom Schatten aus beobachtete Shan, wie Khodrak aufstand, die wichtigen Besucher aus Lhasa vorstellte und dann behauptete, es sei ihm eine große Freude, nun eine wahrhaft weltbewegende Ankündigung machen zu dürfen. Der seit vielen Wochen vermißte Abt von Sangchi sei zu ihm gekommen und habe beschlossen, Norbu zu ehren. Er werde der Welt heute, am ersten Mai, auf den Stufen dieses Klosters verkünden, daß er weder geflohen noch entführt worden sei, sondern sich einfach eine Weile zurückgezogen habe, um sein Verständnis der sozialistischen Lehre zu vertiefen. Die Anwesenden starrten Khodrak ungläubig an und brachen in jubelnden Beifall aus. Die Vertreter des Büros für Religiöse Angelegenheiten sprachen aufgeregt miteinander, erhoben sich und schüttelten erst Khodrak, dann Tenzin energisch die Hand. Shan sah, daß der Abt von Sangchi eines der goldgesäumten Norbu-Gewänder trug.
Mit klopfendem Herzen verfolgte Shan, wie Tenzin das Wort ergriff und zunächst allen in Norbu gompa dankte. »Ich habe das tibetische Volk in tiefe Verwirrung gestürzt«, sagte er. »Dafür möchte ich mich entschuldigen. Vielleicht war ich selbst lange Zeit verwirrt. Doch jetzt, hier in Norbu gompa und dank des Vorsitzenden Khodrak, ist es mir gelungen, meinen weiteren Weg deutlich zu erkennen.«
Bei diesen Worten blickte er in
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