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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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auf den Korridor hinaus und die Treppe nach oben. Er kam an dem Büro mit dem Lautsprecher vorbei und ging weiter zum Besprechungszimmer. Unterwegs blieb er kurz stehen, als er sah, daß an den Haken der ehemaligen Mönche mittlerweile eine sechste Robe hing. Auf dem dazugehörigen Namensschild stand in großen Buchstaben: Gyalo, ein Verräter an Buddha.
    Sorgfältig durchsuchte Shan den Konferenzraum. Im Eckschrank fanden sich Schachteln voller Plastik-dorjes und anderer sinnloser Plunder sowie ein Stapel vertrauter kleiner Bücher mit roten Vinylumschlägen. Schriften aus Peking. Auf einem Stuhl stand eine schwarze Ledertasche. Davor lagen ähnliche Landkarten wie die des Zimmermanns, auf denen die Fortschritte von Norbus Kampagne gegen die alte Ordnung verzeichnet waren. Die oberste Karte steckte in einer Klarsichthülle und war mit einer Büroklammer an einem großen Umschlag befestigt, der die Adresse der Zentrale des Büro für Religiöse Angelegenheiten in Lhasa trug.
    Neben den Karten lagen Seiten aus alten peche. Nach den Pflanzenabbildungen und den Worten zu urteilen, die Shan entziffern konnte, schien es sich um Anweisungen zur Suche und Verwendung von Kräutern zu handeln. Ein Stück davon entfernt sah er auf dem langen Tisch weitere alte Schriften liegen. Sie waren breiter als die peche Blätter und rund um eine Tafel angeordnet, auf der als Überschrift der bekannte Slogan gegen den Feudalismus stand. Darunter folgten ungefähr dreißig Namen in chinesischen Ideogrammen. Man übertrug aus den alten Aufzeichnungen, die aus einem ehemaligen gompa stammten, die Namen von Lamas und Mönchen, vermutete Shan. Die Schreihälse notierten sich die Namen der früheren Bewohner von Rapjung und Norbu, um herauszufinden, ob es noch überlebende Angehörige gab. Während der Haft hatte man Shan zu ähnlichen Aufgaben verpflichtet. Wir verfeinern den sozialistischen Kontext, hatte einer der Politoffiziere es genannt, als Shan damals nach Querverweisen zwischen Telefonbüchern und den Mönchslisten alter gompas suchen mußte. Die Familien würden nicht bestraft werden und vielleicht nie erfahren, daß man sie identifiziert hatte, aber die Partei hielt derartige Daten gern für eine etwaige zukünftige Verwendung fest, falls man auf die betreffenden Personen je Druck ausüben wollte. An einer der Seiten hing ein weißer Zettel mit chinesischen Notizen. Jokar Rinpoche , stand dort, ranghöher Lehrmeister in Rapjung und heute ranghohes Mitglied des Dalai-Kults. Am oberen Rand hatte jemand hastig etwas hinzugekritzelt: Guru Dorje, das ist er. Die folgenden Worte waren doppelt unterstrichen: Er stammt aus Rapjung. Deshalb blieb das Sanitätsteam vor Ort. Man hatte Jokars Ziel herausgefunden.
    Am Ende des Tisches stand eine Tafel, auf der mit Kreide eine Liste numerierter Regeln aufgeführt war, die man teilweise wieder gestrichen oder geändert hatte, als sei man noch mit dem genauen Entwurf beschäftigt: Keine Spende der Bevölkerung darf direkt den Mönchen oder Nonnen ausgehändigt werden. Es obliegt dem Verwaltungskomitee des Klosters, jede Art von Spende entgegenzunehmen und zu verbuchen. Jeder, der mehr als zwei Prozent seines Einkommens spendet, muß zusätzlich eine Steuer in Höhe der Spende entrichten. Wer durch seine Arbeitskraft zum Wiederaufbau eines religiösen Schreins, Steinhaufens oder Klosters beiträgt, muß gemeldet, veranschlagt und entsprechend besteuert werden. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten wird strikt darauf hinweisen, daß alle religiösen Gegenstände
    Eigentum der Volksregierung sind. Wer einen persönlichen Schrein besitzt, muß dem Staat dafür Miete zahlen. Die Klöster werden angehalten, Wirtschaftsbetriebe zu gründen; nach Ablauf einer Übergangszeit müssen sie Profit erzielen, um ihre Lizenzen behalten zu dürfen.
    Es klang wie ein bizarres Manifest, die Grundlage einer Kampagne, die letztlich das Ende aller religiösen Aktivität in Tibet bedeuten würde.
    Shan schaute besorgt zu der Notiz mit Jokars Namen. Guru Dorje , hieß es dort. Wie ein respektloser Spitzname. Guru war ein Begriff aus dem Sanskrit, ein anderes Wort für Lama, und die dorje , das Donnerkeilzepter, gehörte zu den wichtigsten buddhistischen Ritualgegenständen.
    Vor der Tafel am Tischende lag ein Stapel Berichte mit Hochglanzumschlägen, jeweils mehr als zwei Zentimeter dick und am linken Rand von einer Plastikschiene zusammengehalten. Im Bezirk Norbu wächst der Wohlstand , lautete der Titel. Shan starrte

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