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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Richtung Norden. »Ich bin ein Einsiedler, der die Lande durchstreift«, sagte Tenzin in melodischem Tonfall, »ein Bettler auf einsamer Reise. Ich habe das Land meiner Geburt verlassen und meine fruchtbaren Felder aufgegeben.«
    Khodrak und Tuan sahen sich nervös an. Tenzin rezitierte eines von Milarepas Liedern, eine jener uralten Weisen, die Lokesh bisweilen anstimmte. Manche nannten es das Schlußlied, weil es geschrieben worden war, als der berühmte Lehrmeister im Sterben lag. Ein dropka wagte sich zum Podium und überreichte Tenzin einen Gebetsschal. Khodrak lächelte eisig und beugte sich ein winziges Stück vor, als erst ein zweiter und dann ein dritter Tibeter Tenzin mit khatas bedachten. Beunruhigt schaute Khodrak kurz zu den beiden Funktionären, stand auf und stellte sich neben Tenzin. Einer der Mönche trat mit einem Fotoapparat vor und machte eine Aufnahme.
    Shans Blick wanderte zu der Wand neben dem Bürofenster. Dort war eine weitere der Landkarten der Sterilisierungskampagne befestigt. Er sah sich im Raum um. An der Wand neben der Tür befanden sich mehrere Aktenschränke, über denen eine Flagge der Volksrepublik hing. In der Ecke hinter den Schränken stand ein Karton mit verstaubtem Inhalt. Es handelte sich um einheitlich schwarz gerahmte Fotos, die hauptsächlich in Festsälen oder auf den Stufen bedeutender Regierungsgebäude aufgenommen worden waren und stets Tuan zeigten. Tuan in Kriecher-Uniform. Tuan im Anzug. Tuan mit Khodrak, wie sie gemeinsam mit Armeeoffizieren ihre Gläser erhoben. Sogar Tuan auf der Großen Mauer. Shan blickte auf. In jedem anderen Büro hätte man diese Trophäen offen zur Schau gestellt. Bei Tuan hingegen hingen weder persönliche Fotos noch Erinnerungen an seine Karriere.
    An der Wand hinter dem großen Schreibtisch hing eine andere Art von Foto, eine Hochglanzaufnahme, die man offenbar aus einer Zeitschrift gerissen hatte und auf der ein See mit einem kleinen Landhaus zu sehen war, vor dem ein Ruderboot am Ufer lag. Unter dem Bild stand ein kleiner Tisch mit einer einzelnen Schublade. Shan zog sie langsam auf und fand darin ein großes Schlachtermesser und mehr als ein Dutzend Schachteln Zigaretten. Er schaute noch einmal zu dem Landhaus am See. Es wirkte wie die Vorstellung, die jemand von seinem späteren Ruhestand hatte. Er sah das Messer an. Vielleicht hatte man damit Drakte ermordet.
    Auf der ansonsten leeren Schreibtischunterlage lag ein Fax. Shan überflog es, ohne das Papier zu berühren. Man bestätigte darin, daß eine Delegation aus Norbu in zwei Tagen der Feier des Ölprojekts im Tal von Yapchi beiwohnen würde. Lhasa hatte beschlossen, daß dieses Ereignis die Gelegenheit bot, die Preisträger der Klarheitskampagne auszuzeichnen. Auch Norbus neue Bildungsanstalt wollte man bei diesem Anlaß bekanntgeben. Zur Begleitung der Delegierten gehörten ein Fotograf und eine Sicherheitsmannschaft.
    Ein dünnes schwarzes Kabel verlief von der Wand in eine der Schreibtischschubladen. Shan entdeckte darin ein weißes Telefon mit Wählscheibe, an dessen Seite eine Karteikarte mit Nummern klebte. Er hob den Hörer an, um sich zu vergewissern, daß die Leitung frei war, und legte mißtrauisch wieder auf. In der nächsten Schublade fand er mehr als zwei Dutzend Arzneifläschchen voller Tabletten. Er erhob sich, lief ein paar Schritte hin und her, fand sich am Schreibtisch wieder, nahm den Hörer ab und wählte schnell die oberste Nummer, die der Liste nach zur Bezirkszentrale des Büros für Religiöse Angelegenheiten in Amdo gehörte.
    Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine Frau. »Wei«, sagte sie. Es war die Silbe, mit der jedermann in China ans Telefon ging, kein Gruß, sondern lediglich eine anonyme Bestätigung.
    Shan erstarrte und wollte schon auflegen. Dann jedoch nannte er der Frau die fünf Ziffern, die auf der Wählscheibe standen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Alle anderen sind bei den Feierlichkeiten. Kann ich dem Büro des Direktors vielleicht irgendwie behilflich.«
    »Es ist ein Tag, um Helden zu ehren«, unterbrach Shan sie.
    »Ja«, erwiderte die Frau zögernd.
    »Es geht um die Fahrt nach Yapchi«, sagte Shan. »Um die Einzelheiten des Transports. Der Direktor wollte, daß ich den Empfang bestätige und mich erkundige, ob man in letzter Minute womöglich noch Änderungen vorgenommen hat.«
    »Nein, keine Änderungen.«
    Shan drehte sich um und betrachtete noch einmal das Bild des Landhauses. »Der Direktor hat uns daran erinnert, daß

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