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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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an deren Oberkante der Name des Ölprojekts stand, eine detaillierte Reliefkarte des Tals von Yapchi und der Strecke, die von der Fernstraße abzweigte. Er ging zu der Karte. Auf dem Südhang des Tals hatte man mehrere gepunktete Linien eingezeichnet, jede in einer anderen Farbe. Larkin schob sich an ihm vorbei und legte eine Karte darüber, auf der in großem Maßstab die Provinz Qinghai abgebildet war.
    Nyma kam von den purbas zu Shan. »Im Lager rechnen alle damit, morgen oder übermorgen auf Öl zu stoßen«, verkündete sie resigniert.
    Es klang wie eine Totenrede. Falls Jenkins' Leute fündig wurden, war alles vorbei und das Schicksal des Tals besiegelt. Man würde die Hänge vollständig abholzen und die Gerstenfelder unter den Bulldozern des Projekts zermalmen. Statt Lerchengesang würde man Motorenlärm hören, und der Duft der Frühlingsblumen müßte beißenden Dämpfen weichen.
    »Weniger als vierundzwanzig Stunden.«
    Melissa Larkin nickte grimmig. »Es ist eine Delegation hoher Funktionäre zum Tal unterwegs. Leute aus Lhasa und Golmud, wegen der großen Feier.«
    Nyma drehte sich zu einem purba um, der auf einer der Schlafstätten lag. »Wer hat die Kugel rausgeholt?« fragte sie.
    »Ich«, sagte Larkin. »Es war ja sonst niemand da. Er hat währenddessen auf ein Stück Leder gebissen. Sie steckte nur im Muskel. Lokesh sagt, sein Blut sei noch stark.«
    Shan musterte den verwundeten purba beunruhigt. Eine Kugel. Bekümmert registrierte er, daß auf dem Sims über dem Mann ein Sturmgewehr lag.
    Er sah wieder die Geologin an und erinnerte sich, wie enttäuscht sie gewirkt hatte, als sie die Sprengladungen zurücklassen mußten. »Das geht nicht«, hörte er sich mit jäher Verzweiflung sagen und wies auf die Flüchtlinge. »All diese Leute haben genug gelitten.«
    Melissa Larkin hielt seinem Blick stand. »Cowboy hat ihre Namen und Registriernummern. Er wird dafür sorgen, daß man ihnen eine ordentliche neue Bleibe zuweist. Wenn er das nächste Mal nach Tibet kommt, wird er mir Bericht erstatten.«
    Winslow hob den Kopf und grinste Shan an. Cowboy.
    Im Raum erhob sich überraschtes Murmeln. Shan sah sechs kräftige Tibeter eintreten, die jeweils zu zweit eine Stange trugen, an der eine schwere Holzkiste hing. Larkin ging zu ihnen und half, die Kisten an der Rückwand der Höhle aufzustapeln.
    »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte Somo zweifelnd und besorgt. »Die purbas haben mir lachend erzählt, ein Transporter der Firma sei von der Straße abgekommen.«
    Shan zog sich zurück und trat näher an die Kisten heran. Sie trugen eine chinesische Aufschrift. Ölprojekt Qinghai , stand dort. Vorsicht! Sprengstoff! Er ging hinaus und kämpfte gegen das Gefühl der Niederlage an, das anscheinend auch Nyma und Lhandro beschlichen hatte. Am Zugang zur Höhle fand er Winslow, der über den brodelnden Wassern des vergrabenen Flusses stand.
    »Manche der Tibeter sind, was diesen Ort betrifft, sehr abergläubisch«, sagte der Amerikaner. »Sie behaupten, es sei eine Verbindungsstelle.«
    »Verbindungsstelle?«
    »Ich verstehe nicht alles, was ich gehört habe. Einer von ihnen sagte, es sei ein Tor. Zu einem anderen Universum, einem der verborgenen Länder. Einem hayal. Melissa hat erzählt, die Tibeter glauben, daß es viele von Menschen bewohnte Welten gibt, von denen manche für die meisten von uns unsichtbar sind; außerdem viele verschiedene Arten von Himmeln und Höllen. Nyma sagte, vor vielen Jahren, noch vor ihrer Geburt, sei eine alte Nonne, die hier in der Nähe lebte, mit ihren Schülern hergekommen und habe erklärt, eine Gottheit, die in dem verborgenen Land hinter diesem Tor wohne, habe sie zu sich gerufen, um mit ihr zu sprechen. Dann soll sie einfach hineingesprungen sein.«
    Shan folgte Winslows Blick zu dem Strudel unter ihnen. Larkins geheimer Fluß. Irgendwie würde es nicht mehr dasselbe sein, wenn die Geologen ihn mit einem Namen versahen und in ihre Karten einzeichneten. In einem urwüchsigen, größtenteils unerschlossenen Land war dies einer der wildesten und ungezähmtesten Teile. Es war wie ein Mahlstrom, dachte Shan, ein dunkler Mahlstrom, der sich mitten im Trockenen aufgetan hatte. Er stellte sich vor, wie das Wasser hinabwirbelte und durch das verborgene Flußbett brauste. Vielleicht sahen sie hier den oberen Teil eines Wasserfalls vor sich, der durch das Dach einer gewaltigen Höhle in einen See stürzte, in dem nagas lebten. Womöglich lag dahinter tatsächlich ein verborgenes Land,

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