Das tibetische Orakel
wo ein Einsiedler auf einem Felsen saß, zu dem Wasserfall aufblickte und sich fragte, was für eine Welt sich wohl darüber befinden mochte. Unter Umständen war dies der Ort, an den der chenyi-Stein gehörte, weil in jener anderen Welt die Götter nicht so schwer aufzufinden waren.
Shan mußte sich zwingen, den Blick von dem faszinierenden Wasserfall abzuwenden. »Falls Larkin aus ihrem Lager einen Unterschlupf für Saboteure macht, wird sie sich in ernste Gefahr bringen«, sagte er.
»Sie ist keine einfache Geologin«, entgegnete Winslow geistesabwesend und starrte weiterhin in die Tiefe.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten für den Einsatz dieses Sprengstoffs. Man will entweder das Lager angreifen und es unter einem Felsrutsch begraben oder die Straße hochjagen, wenn diese Würdenträger eintreffen. Nichts davon wird irgendein Problem lösen.«
»Die Straße. Das muß es sein«, sagte Winslow voller Sorge. »Aber sie würden niemals absichtlich all diese Leute umbringen. Bestimmt geht es bloß um eine Blockade.«
»Und bewirken wird es, daß mehr Soldaten kommen«, sagte Shan. »Es wird weitere Festnahmen geben. Zhu hat nicht aufgehört, nach Melissa Larkin zu suchen. Mit Unterstützung der Armee wird er diesen Ort finden, und die Leute hier werden nicht einfach nur Flüchtlinge sein, sondern als Staatsfeinde behandelt werden. Die Soldaten werden kommen, um Verhaftungen vorzunehmen, notfalls mit Gewalt.«
Winslow verzog das Gesicht und schaute zurück in die Höhle.
»Manche Leute behaupten, wenn man jemandem das Leben rettet, sei man von diesem Zeitpunkt an auf ewig sein Beschützer«, sagte Shan. Doch er wußte, daß die Beziehung zwischen den beiden Amerikanern sich bereits wesentlich komplizierter entwickelt hatte.
Winslow seufzte. »Falls meine Frau Geologin gewesen wäre«, sagte er gedankenverloren in Richtung der Höhle, »wäre sie genau so gewesen.«
Er warf Shan einen erstaunten Blick zu, als hätten die Worte ihn selbst überrascht. »Damit meine ich nicht.«
Er starrte das tosende Wasser an, und einen Moment lang glaubte Shan, so etwas wie Sehnsucht in seiner Miene zu erkennen, als würde der Amerikaner in Erwägung ziehen, hineinzuspringen und das verborgene Land zu erkunden. »Ich meine.«
»Schon in Ordnung«, sagte Shan ruhig. Er trat von der Kante zurück und ging zu Lokesh hinein. Sein alter Freund sprach leise mit Somo. Die purba-Läuferin zeichnete etwas auf ein Stück Papier, und Lokesh beugte sich aufgeregt darüber. Als er Shan sah, zog er ihr den Zettel weg und faltete ihn schnell zusammen.
»Lokesh wollte eine Karte von Peking. Ich habe dort früher mal an Wettläufen teilgenommen«, erklärte Somo.
»Und er hat einen Brief an den Vorsitzenden geschrieben«, fügte sie begeistert hinzu und hielt inne, weil die beiden Männer sich angespannte Blicke zuwarfen.
»Shan will nicht, daß ich gehe«, erklärte Lokesh. »Allerdings hat er überhaupt keinen guten Grund dafür.«
Der alte Mann verstaute das Papier in der Hemdtasche. »Nur, daß es gefährlich sein könnte.«
Sobald er die Tasche zugeknöpft hatte, hellte sein Gesicht sich auf. »Wir haben viele Gänseschwärme gesehen«, verkündete er Shan, gähnte übertrieben laut und rieb sich die Augen. Shan seufzte, ließ sich auf den Rand des Schlafplatzes sinken und lehnte sich gegen die Felswand.
Er fiel in eine Art Halbschlaf, und immer wenn er hochschreckte, sah er verzweifelt den Tibetern zu. Fremde kamen und brachen gleich wieder auf, nachdem sie den purbas irgendwelche Botschaften ausgerichtet hatten. Somo saß mit Winslow und einigen der Dörfler aus Yapchi zusammen und ging Draktes Geschäftsbuch durch. Als sie erklärte, was Tuan und Khodrak getan hatten, lachte einer der Bauern und sagte, deren Daten müßten wohl aus irgendeinem hayal stammen.
Als Shan um Mitternacht aufwachte, sah er als erstes Lokesh. »Wer paßt hier eigentlich auf wen auf?« fragte sein alter Freund. Shan holte ihm einen Teller mit kaltem tsampa und eine Schale Tee. Lokesh fing an, eifrig von Kleinigkeiten zu erzählen, von dem grauen Vogel, der am Eingang der Höhle aufgetaucht sei und ein Bad in einer Pfütze genommen habe, und von der Wolke, deren Umrisse ihn an ein Kamel erinnert hätten.
Im Raum war es ruhig, abgesehen vom leisen Zischen mehrerer Butterlampen. Melissa Larkin war an ihrem Tisch eingenickt und hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet. Die meisten der purbas schliefen ebenfalls, die anderen hielten draußen
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