Das tibetische Orakel
ist gelogen«, entgegnete Lin. »Es gab keine derartige Meldung. Ansonsten hätte die Suchaktion hier stattgefunden und nicht an der indischen Grenze.«
»Es ist nicht gelogen. Khodrak und gewisse Schreihälse wollten nicht, daß jemand anders davon erfährt. Genau wie Sie nicht jedem erzählt haben, warum Sie wirklich nach Yapchi gekommen sind. Anscheinend gehen viele Staatsvertreter lieber inoffiziell vor.«
Lin verzog das Gesicht und schloß die Augen. Vielleicht aus Schmerz oder Müdigkeit; vielleicht auch, um das Gespräch zu beenden.
»Die Schreihälse wollen Jokar Ihren Männern abnehmen. Jokar hat geholfen, Sie zu heilen«, erinnerte Shan ihn. »Wollen Sie ihn wirklich den Schreihälsen überlassen?«
Als der Oberst nicht antwortete, stand Shan auf. »Sie müssen zurückkehren«, sagte er. »Morgen.«
Lin öffnete die alte chuba und starrte sein rotes Hemd an, während Shan wegging. »Ich kann meine Uniformjacke nicht finden«, sagte er stirnrunzelnd.
Doch drinnen lag der Waffenrock ordentlich gefaltet auf Lins Bettstatt. Shan und Somo tauschten einen wissenden Blick aus. Somo hatte die Uniform des Obersts in Norbu getragen. »Wir müssen Leute schicken, die ihn von hier wegbringen«, sagte sie auf dem Weg zur Tür.
Purbas , erkannte Shan. Sie meinte, daß purbas herkommen und Lin mitnehmen sollten. »Nein«, widersprach er. »Das wäre keine gute Idee. Wir müssen.«
Er rang nach den richtigen Worten.
»Ihm trauen?« fragte Somo. »Sie wollen, daß wir Lin vertrauen?«
»Nicht Lin«, sagte Shan. »Lokesh hat gesagt, dieser Ort besitze große Heilkräfte. Ich schätze, darauf sollten wir vertrauen.«
Somo runzelte die Stirn, machte dann kehrt und verließ den Raum. Wenig später verabschiedeten sie sich von dem kleinen Plateau und ließen Lin und Anya Proviant für nur zwei weitere Mahlzeiten zurück. Shan nickte dem Oberst, der immer noch bei dem verkrüppelten Baum saß, ein letztes Mal zu und erntete einen finsteren Blick. Anya hielt sich abseits und hatte eines ihrer Lieder angestimmt. Es klang wie eine Klage, und Shan versuchte vergeblich, aus ihrem Gesicht abzulesen, welche Wahrheit sie diesmal erblickt hatte. Als er sich etwas später umdrehte, stand Anya an der Felskante und schaute in den Abgrund hinab.
Die Grüne Tara schien ein Wohnheim eröffnet zu haben. Chemi war dort, gemeinsam mit ihrem Onkel Dzopa, der immer noch kaum bei Bewußtsein war, sowie etlichen Tibetern, die Shan bereits in dem Lager hinter dem Dorf Yapchi gesehen hatte. Die rongpas unterhielten sich aufgeregt über das Frühlingsfest und die wundersame Flucht des Abtes von Sangchi, setzten sich neben Tenzin und erbaten seinen Segen. Aus vielen Kilometern Umkreis kämen die Menschen herbei, um sich auf dem Berg zu versammeln, erzählten sie, denn die Vorgänge in Norbu seien ein gutes Vorzeichen dessen gewesen, was geschehen würde, wenn endlich wieder jemand auf dem Stuhl des Siddhi Platz nähme.
Shan ahnte Schlimmes voraus, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als er Lokesh und Winslow mit einigen purbas sprechen sah, die Vorräte brachten. Jokar sei weiterhin in Yapchi, bestätigten sie, und dürfe sich sogar frei bewegen, wenngleich einer von Lins Soldaten immer in seiner Nähe bliebe. Der Manager des Lagers habe einen Arzt rufen wollen, um den gebrechlichen alten Lama untersuchen zu lassen, doch Jokar habe sich geweigert. Lhandros Eltern seien bei ihm, zumindest in seiner Nähe - nicht als Gefangene, sondern weil sie sich weigerten, ihn zu verlassen. »Sie halten sich hauptsächlich bei der Grabungsstelle und diesem chinesischen Professor auf«, berichtete Melissa Larkin.
»Sind Sie vor Ort gewesen?« fragte Shan und ließ den Blick von neuem durch die Höhle schweifen. Die Laborgeräte und die älteren Tibeter, die wie Wissenschaftler ausgesehen hatten, waren nicht mehr da.
»Oberhalb auf dem Berggrat«, erwiderte die Amerikanerin. »Gestern. Um Messungen vorzunehmen. Wir hatten Ferngläser. Es befinden sich nun wesentlich mehr Soldaten im Lager. An der Zufahrt zum Tal haben sie einen Kontrollposten errichtet, damit von der Straße her niemand mehr hinein kann. Und auf den Hängen über dem Lager sind Patrouillen unterwegs.«
»Messungen?« fragte Shan und schaute von Larkin zu Winslow. »Aber Sie suchen doch nicht immer noch nach Öl?«
Melissa Larkin ignorierte ihn. Winslow hob beide Hände, als könne er es sich ebenfalls nicht erklären. Shan hingegen sah auf der Felsplatte eine neue Landkarte liegen,
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