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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verhaftet«, sagte Nyma, als wolle sie sichergehen, daß Anya es auch wirklich verstand.
    Das Mädchen schaute zu Boden und nickte zerstreut. Während die anderen den Rest der Sachen zusammenpackten, setzte Shan sich auf einen Felsen neben Lin und beobachtete einen Falken, der unter ihnen durch die Lüfte schwebte. Er fühlte sich plötzlich hilflos, traurig und leer.
    »Als ich noch klein war«, sagte Shan schließlich, »kam, immer wenn es schneite, eine Schar Frauen mit Reisigbesen die Straße hinunter und fegte alles in den Rinnstein. Es gab nie besonders viel Schnee, nur ein paar Flocken, und sie kamen meistens vor Tagesanbruch, wenn ich zwischen meiner Mutter und meinem Vater im Bett lag. Wir wachten dann jedesmal auf und lauschten, denn es war ein wunderschönes Geräusch. Das Rascheln der Besen sei wie ein Wasserfall, und sie würde sich fühlen, als wären wir in den Bergen, sagte meine Mutter. Mein Vater nannte es den Vorbeizug der Raupe, denn so sah die Reihe der Straßenkehrerinnen aus, wie ein langes graues Geschöpf mit vielen Beinen, das beim Vorwärtskriechen weißen Staub aufwirbelte. Manchmal sangen sie - keine Parteihymnen, sondern einfache Kinderlieder über Schneeflocken und den Wind. Und hin und wieder sang meine Mutter leise im Dunkeln mit. Gelegentlich träume ich noch davon, aber nur von den Geräuschen, nicht von den Bildern, weil es immer dunkel war, wenn es geschah. Ich höre die Raupe und empfinde Frieden. Mitunter vergehen mehrere Wochen, in denen ich nur in diesen Träumen Ruhe finden kann.«
    Der Oberst sah ihn aus großen runden Augen an und nickte stumm, als hätten sie sich stets nur über Straßenkehrerinnen unterhalten. Dann verharrten sie wiederum schweigend. Shan deutete auf einige weiße Vögel, die in der Ferne vorbeiflogen. Lin schaute ihnen nach, bis sie in einer Wolke verschwanden.
    »Sie hat mich gebeten, nicht mehr auf Vögel zu schießen«, sagte der Oberst leise und sah Shan fragend an.
    Shan nickte nur.
    Lin wandte sich wieder der Wolke zu, als könne er die Vögel immer noch sehen. »Der Blick in Tibet reicht weit.«
    Shan nickte erneut. »Zurück und wieder hierher, hat ein Lama mal zu mir gesagt.«
    Lin sah ihn abermals fragend an.
    »Er hat gemeint, daß man sich selbst und die eigene Vergangenheit bisweilen anders betrachtet, wenn man eine Zeitlang in Tibet gewesen ist.«
    »Wissen Sie, sie ist nie zur Schule gegangen. Kein einziges Mal. Sie könnte ein paar Tests absolvieren. Ich würde ihr eine gute Schule vermitteln. Ein solches Mädchen könnte viel aus seinem Leben machen. Was für eine Zukunft würde ihr hier denn bevorstehen?«
    Lin sah wieder Shan an. »Diese Leute wurden entwurzelt«, fügte er verunsichert hinzu, als wüßte er nicht, wie es dazu gekommen war, und blickte auf seine Hände. »Ich könnte dafür sorgen, daß sich echte Ärzte um ihr Bein kümmern.«
    »Ihre Soldaten«, sagte Shan. »Sie haben Jokar verhaftet. Den Lama-Heiler.«
    »Nein«, entgegnete Lin, als wolle er widersprechen. »Er ist bloß ein alter Mann und hat niemandem etwas getan.«
    Shan war verblüfft. Das klang fast so, als wolle Lin den Lama-Heiler verteidigen. »Ich glaube, der Grund dafür war, daß die Schreihälse sich den Abt von Sangchi geschnappt hatten.«
    Lin schaute wieder zum Horizont. »Das alles ist keine anständige Aufgabe für einen Soldaten. Wir müßten eigentlich die Grenzgebiete bewachen.«
    Er betrachtete den alten Baum. »Dieser Abt hätte die Akte nicht mitnehmen dürfen. Ich wollte immer nur die Akte.«
    »War das denn wirklich so wichtig?« fragte Shan und ließ Lin dabei nicht aus den Augen.
    Lin sah ihn kurz an und schaute gleich wieder weg. »Militärgeheimnisse«, murmelte er.
    »Warum ist dann nicht die Öffentliche Sicherheit hinter ihm her? Ich vermute, weil die Öffentliche Sicherheit nichts von einer gestohlenen Akte weiß. Und ich vermute, daß es um die 54. Brigade geht. Womöglich um die Ehre der 54ten.«
    »Verschlußsache«, murmelte Lin. »Vier meiner Soldaten sind für dieses Geheimnis gestorben.«
    »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat sich Tenzin gegriffen«, verkündete Shan und beobachtete Lins Reaktion. »Das Büro und ein Mönch mit Namen Khodrak. Khodrak hat Tenzin in Lhasa gesehen, bevor der Stein gestohlen wurde, und zwar in Gesellschaft eines ehemaligen Mönchs namens Drakte. Ich glaube, letzten Monat hat er Drakte erneut gesehen, irgendwo hier in der Nähe, und daraufhin begonnen, nach Tenzin zu suchen.«
    »Das

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