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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Wache.
    »Die Amerikanerin hat grünen Tee«, sagte Lokesh.
    Shan musterte seinen Freund. Es war, als würde er ein bestimmtes Thema vermeiden wollen.
    »Was haben sie vor, Lokesh? Larkin und die purbas. Ich mache mir große Sorgen um sie.«
    Lokesh schaute quer durch die Kammer. »An der Wand dahinten habe ich alte Bilder gesehen. Ich glaube, hier haben früher Einsiedler gewohnt.«
    »Was haben sie vor?« wiederholte Shan.
    Lokesh zuckte die Achseln. »Sie versuchen, die Erd- und Wassergötter in Einklang zu bringen.«
    Shan seufzte.
    »Ich glaube, sie wollen lernen, wie man Wunder vollbringt«, fügte Lokesh hinzu.
    »Sie haben Sprengstoff.«
    Shan deutete auf die Holzkisten neben den Schlaflagern der purbas.
    Lokesh starrte die Kisten lange an. »Ich weiß nicht. Nyma und Somo würden doch keine Vermeider benutzen.«
    Vermeider. Es war ein Begriff aus der Zeit ihrer gemeinsamen Haft. Er basierte auf der Lehre eines alten Mönchs aus ihrer Baracke, der wenig später nach fünfundzwanzig Jahren Gefangenschaft verstorben war. Schußwaffen seien Vermeider, hatte er gesagt, genau wie Bomben, Panzer und Kanonen, denn sie ermöglichten ihren Benutzern, ein Gespräch mit dem Feind zu vermeiden, und verliehen ihnen den Glauben, sie würden das Richtige tun, nur weil sie die machtvolleren Tötungsinstrumente besaßen. Jene aber, die nicht mit ihren Gegnern sprechen könnten, würden am Ende stets unterliegen, denn ihnen ginge nicht nur die Fähigkeit verloren, mit ihren Widersachern zu reden, sondern auch mit ihren inneren Göttern. Und der Verlust der inneren Gottheit sei die größte aller Sünden, denn ohne innere Gottheit sei ein Mensch nur eine leere Hülle, nichts als eine niedere Lebensform.
    Shan sah zu Somo und Nyma, die beide auf dem Höhlenboden schliefen. Nein, als niedere Lebensformen konnte er sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
    »Wir müssen morgen früh mit diesen purbas sprechen«, sagte Lokesh betrübt. »Falls eine Bombe explodiert, ist Jokar für immer verloren.«
    Ein Ausdruck der Verzweiflung huschte über sein Gesicht. Dann wickelte er sich in seine Decke, und Shan blies die nächstgelegene Lampe aus.
    Doch am Morgen waren die purbas , die amerikanische Geologin und der Sprengstoff verschwunden.
    »Sie sind vor drei Stunden aufgebrochen«, sagte Lhandro verwirrt. Er stand am Höhleneingang, als habe er nach den Leuten gesucht. »Sie wollten nicht mit mir reden, aber ein paar der purbas haben mir Briefe für ihre Familien gegeben. Bevor sie gegangen sind, haben sie sich im Kreis hingesetzt und gebetet, sogar die Amerikanerin. Dann haben sie ihre Kisten genommen und sind los. Draußen haben sie ein Feuer gemacht.«
    Er wies auf den Eingang.
    Shan und Somo liefen hinaus. Vor der Wand lagen ein kleiner Haufen Asche und verkohlte Papierfetzen. Die Landkarten. Sie hatten ihre Karten und Forschungsergebnisse verbrannt, als wollten sie die Entdeckung des Flusses nun nicht mehr öffentlich bekanntgeben. Das alles wirkte auf beängstigende Weise endgültig. Sie hatten den Sprengstoff mitgenommen. Sie hatten ihre Aufzeichnungen vernichtet. Die Funktionäre wurden am selben Tag im Lager erwartet.
    »Sie hat eine Nachricht hiergelassen«, sagte jemand hinter Shan. Winslow stand da und hielt einen kleinen Zettel in der Hand, eine Seite aus Larkins Spiralblock. »Ihre Adresse in den Vereinigten Staaten, an die ich ihren Eltern einen Brief schreiben soll, falls alles kein gutes Ende nimmt. Eine besondere Telefonnummer in Lhasa, wo jemand eventuell über sie Bescheid wissen könnte. Sie sagt, außer mir würde niemand diese Nummer kennen. Und sie schreibt, komm im Sommer wieder her, und wir können am heiligen See zelten.«
    Der Amerikaner schaute zu dem nebelverhangenen Pfad hinauf, zu dem grauen Fleck über ihren Köpfen, der vom ersten Tageslicht kündete. »Falls sie dann noch am Leben ist. Sie sagt, ein Lastwagen der Firma würde noch am Vormittag nach Golmud aufbrechen, und ich solle unbedingt mitfahren, denn immerhin sei sie amerikanische Steuerzahlerin und wolle mich wieder an der Arbeit sehen.«
    Am Vormittag. Bevor die Delegation hier eintraf, meinte sie.
    »Alle müssen nach unten«, drängte Shan, »nach unten zur Straße. Flieht!«
    Lokesh sah ihn durchdringend an. Shan erkannte, daß ihnen vor einiger Zeit jemand begegnet war, der genauso nachdrücklich zur Flucht aufgefordert hatte. Vielleicht war auch Drakte ohne jede Hoffnung gewesen. Shan deutete auf Chemis Onkel, der endlich zu sich zu

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