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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gewohnt waren und gelernt hatten, daß Mißtrauen, Angst und Vorwürfe die Fundamente der Macht darstellten.
    »Die Tatwaffe war der Stab, den er bei sich trägt. Messen Sie die Spitze nach, und Sie werden feststellen, daß sie zu der tödlichen Wunde des stellvertretenden Direktors Chao paßt.«
    Inzwischen war Shan sich sicher, daß sie auch noch zu einer anderen Verletzung paßte, zu dem klaffenden Schnitt in Draktes Unterleib, den der purba mit grobem Garn und einer Zeltnadel selbst zu nähen versucht hatte. Drakte war es gelungen, aus Amdo zu fliehen, doch die von Khodrak beigebrachte Wunde hatte ihn am Ende in der Einsiedelei getötet. Und das heilige Mandala zerstört.
    Die Gefangenen vom anderen Ende des Tals kamen immer näher und würden das Lager in fünf Minuten erreichen. Melissa Larkin zählte zu ihnen und würde sich Auge in Auge mit Zhu wiederfinden.
    Hinter Shan regte sich jemand. Professor Ma stellte sich neben ihn; zwei Chinesen gegen den tibetischen Vorsitzenden von Norbu gompa. Der Professor sagte nichts, sondern hob den Arm und drehte die Handfläche nach außen, so daß die Funktionäre aus Lhasa, die in der ersten Reihe saßen, deutlich das Blut sehen konnten, das von seinen Fingern tropfte. Die streng wirkende Frau in dem grauen Kostüm keuchte auf und flüsterte dem Mann neben ihr etwas ins Ohr.
    »Lügen!« rief Khodrak. »Es gibt dafür keinerlei Beweise!«
    Unsicher schaute er zu seinen Wachen, die weiterhin von den Soldaten in Schach gehalten wurden, und dann zu Tuan, der immer noch wie betäubt dastand. Es schien, als habe der Direktor schlagartig resigniert, doch Shan wußte, daß dies bereits vor langer Zeit geschehen war. Keinen Moment lang hatte er Khodraks Eifer oder Ziele geteilt. Der Besuch in Tuans Büro hatte eine Tür in Shans Gedächtnis geöffnet, ganz am Ende des dunklen, fernen Korridors, der für seine Pekinger Inkarnation stand. Für den auf Korruptionsermittlungen spezialisierten Inspektor Shan war die Beweislage eindeutig. Verglichen mit Khodrak nahmen Tuans Ambitionen sich wesentlich bescheidener aus. Der Direktor hatte nichts anderes gewollt, als in Ruhestand zu gehen, bevor seine Krankheit ihn umbrachte. Und finanziert werden sollte sein kleines Häuschen am See von den Gehältern der fünf erfundenen Soldaten, die er auf die Lohnliste gesetzt hatte.
    »Sie sind in Amdo gewesen, um zu verhindern, daß das Büro für Religiöse Angelegenheiten die korrekten Daten erhalten würde«, fuhr Shan fort, »denn der stellvertretende Direktor Chao hätte sie nach Lhasa weitergeleitet. Dann aber erkannten Sie den Tibeter, der den Bericht überbrachte. Sie hatten ihn in Lhasa mit dem Abt von Sangchi gesehen, und zwar an dem Abend, an dem er verschwand. Ihnen wurde klar, daß dies vermutlich bedeutete, daß der Abt sich nicht an der indischen Grenze aufhielt. Allerdings haben Sie niemanden in Lhasa davon unterrichtet, sondern die Suche im Süden weiterlaufen lassen, weil Sie eigene Pläne hatten: Sie wollten den Abt selbst aufspüren, damit er den Erfolg Ihrer Kampagne verkünden würde. Nicht die Klarheitskampagne. Ihre Kampagne. Nicht Lhasas Kampagne, nicht Pekings Kampagne. Eine neue Kampagne mit dem Ziel, die Gewalt in den gompas zu übernehmen. Statt der öffentlichen Sicherheit sollte in Zukunft eine neue Truppe dafür zuständig sein, gebildet aus den Reihen des Büros für Religiöse Angelegenheiten. Ähnlich wie die Truppe, die Sie gemeinsam mit Direktor Tuan gegründet haben, ohne von Lhasa dazu ermächtigt worden zu sein.«
    Die Morde wären den hohen Funktionären letzten Endes gleichgültig gewesen, doch Khodrak hatte ein weitaus schlimmeres Verbrechen begangen. Er hatte sich insgeheim gegen eine offizielle Parteikampagne verschworen. Er war nicht loyal gewesen.
    »Lügen!« zischte Khodrak erneut. »Sie werden schon sehen«, sagte er in Richtung der Plattform. »Ich habe noch etwas für Sie.«
    Er drehte sich um, suchte die Gesichter der Menge ab und rief nach Padme. »Einen schlagenden Beweis für den Verrat dieser Leute!«
    Der junge Mönch drängte sich nach hinten durch die Menge und kehrte mit der schwarzen Ledertasche zurück. Khodrak öffnete sie hastig, nahm ein großes, in Stoff gewickeltes Bündel heraus und reichte es triumphierend der Frau im grauen Kostüm am vorderen Rand der Plattform.
    Sie nahm es entgegen und wickelte es aus. Zwei der anderen Würdenträger schauten ihr dabei über die Schulter. Als der Stoff beiseite fiel, keuchte Khodrak auf und

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