Das tibetische Orakel
dropkas stellten bisweilen Dinge auf ihre Altäre, die den Schreihälsen gar nicht gefallen würden. Eine Frau eilte zu dem Mann, der wie ein Wächter mit seinem Stab dasaß, woraufhin er kurz in seinem Zelt verschwand, dann wieder zum Vorschein kam und diesmal stehend Posten bezog, den Stab wie einen Speer an seiner Seite.
Ein halbwüchsiges Mädchen, das Haar zu zwei Zöpfen geflochten, die Augen fast so leuchtend wie ihre roten, doja -bestrichenen Wangen, kam mit einem kleinen Schnürbeutel auf sie zu. Sie humpelte unübersehbar, und ihr linkes Bein schien unterhalb des Knies verdreht zu sein. Einen Moment lang strahlten sie und Nyma sich an; dann schlossen sie einander schweigend in die Arme. Danach ließ das Mädchen seinen Beutel neben dem Steinkreis fallen und öffnete ihn. Tenzin kam hinzu und musterte den Inhalt mit beifälligem Nicken; es war Dung für das Feuer. Mit Kennermiene nahm der stumme Tibeter ein Stück in die Hand, als wolle er sich vergewissern, daß es auch wirklich Yakdung war, der beste aller Brennstoffe, die hier auf der Hochebene verwendet wurden, denn im Gegensatz zu Schaf- oder Ziegendung mußte man das Feuer nicht ständig mit einem Blasebalg neu anfachen. Tenzin leerte den Beutel des Mädchens, hob schweigend seinen eigenen Ledersack, den er wie einen wertvollen Besitz vom Sattel mitgenommen hatte, und machte sich auf den Weg zu den Weiden. Shan blickte dem rätselhaften Mann hinterher. Es war, als wäre das Sammeln von Dung dem ehemaligen Strafgefangenen zur Berufung geworden, als hätte der Tibeter mit der aristokratischen Ausstrahlung beschlossen, daß sein Beitrag zur Gesellschaft darin bestehen würde, die Feuer anderer Leute am Brennen zu erhalten.
Shan bemerkte, daß auch das rotwangige Mädchen mit den Zöpfen Tenzin beobachtete. Schließlich drehte sie sich um, warf Shan einen schüchternen Seitenblick zu und humpelte zu einem Mann mit einer alten Fuchsfellmütze, der in etwa fünfzig Metern Entfernung mit einer Schaufel grub. Um ihn ragten bereits mehrere kleine Erdhaufen auf.
»Ich dachte, das Salz wird an der Oberfläche gewonnen«, sagte Shan verblüfft. Sobald das Mädchen an seiner Seite auftauchte, gab der Mann ihr etwas. Sie machte aufgeregt kehrt und eilte mit schiefen, watschelnden Schritten zu dem Zelt, wo der alte Hirte Wache stand.
Lhandro folgte Shans Blick und wies in die entgegengesetzte Richtung. Dort entdeckte Shan eine alte Frau, die oberhalb des Lagers auf einem Hügel saß.
»Tonde« , sagte Lhandro und bezog sich damit auf die heiligen Objekte, die Tibeter manchmal aus dem Boden holten. Dabei konnte es sich um Pfeilspitzen, Tonscherben oder Schnitzereien in Form von Ritualgegenständen handeln. Ein Häftling in Shans Straflager hatte einst eine korrodierte Bronzespange gefunden, die seiner festen Überzeugung nach aus dem Besitz von Guru Rinpoche, dem alten Lehrer, stammte, und einen Altar aus Pappe dafür errichtet.
»Seit tausend Jahren kommen heilige Männer an diesen Ort«, erklärte Lhandro. »Die alte dropka da oben hat eine aus Türkis geschnitzte Lotusblume gefunden, der sie große Macht zuschreibt. Gestern hat sich angeblich ein chinesisches Flugzeug genähert, und sie konnte es mit dem tonde verscheuchen. Aber sie leidet an grauem Star und ist fast blind.«
Er schwieg für einen Moment. »Unsere Anya«, sagte er dann und nickte in Richtung des hinkenden Mädchens. »Anya hat gesehen, wie sie die Faust drohend gen Himmel schwang, und gesagt, es sei bloß eine Gans gewesen, die den Anschluß an ihren Schwarm verloren hatte. Jetzt behauptet die alte Frau, falls die Soldaten näher kämen, würde sie einen weiteren Hagelschauer auf sie herabbeschwören.«
Shan und Lokesh sahen sich an. Die Armeepatrouille, die ihnen aufgefallen war, hatte sich viele Kilometer vom Lager entfernt befunden. Die Menschen der Changtang schienen auf geheimnisvolle Weise stets Bescheid zu wissen.
»Unterschätzt die tonde nicht«, warf eine Stimme hinter ihnen ein. Es war die Frau mit der bunten Schürze, die soeben einen Ledereimer vorbeitrug. »Manche davon mögen einfach nur hübsche Steine sein. Andere hingegen.«
Sie betrachtete Shan für einen Augenblick und kam dann näher. »Es heißt, ein Mönch habe mit Hilfe eines tonde diesen chinesischen Berg zerstört.«
»Einen Berg zerstört?« fragte Shan.
»Weit im Süden, an der Grenze zu Bhutan«, bestätigte die Frau nickend. »Einen der Armeeberge. Ihre Sklaven hatten ihn ausgehöhlt, und dann waren die
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