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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hing. Diese Frisur war unter gläubigen Frauen seit Jahrhunderten üblich, und es waren stets genau einhundertacht Zöpfe, einer für jede Perle der buddhistischen Gebetskette. Sie nickte ihnen beiläufig und eher desinteressiert zu. Shan ließ den Blick über die kleine Ansiedlung schweifen und erkannte, daß es sich eigentlich um mehrere Lager mit jeweils eigenen Feuern und Zelten handelte, die das Salz hier zusammengeführt hatte.
    Während die Neuankömmlinge sich ihm näherten, musterte der Mann bei dem weißen Zelt überaus erwartungsvoll ihre Gesichter. Als er den Hut abnahm, kam darunter ein struppiger schwarzer Schopf mit grauen Strähnen zum Vorschein. Auf seinem Hals konnte man ein auffälliges Muttermal in Form eines umgedrehten, schrägen U erkennen, gleich über der Kette aus kleinen türkisfarbenen Steinen, an der ein großes silbernes gau hing. Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Nyma!« rief er, während die Nonne abstieg und zu ihm lief. »Heiliger Buddha, es ist wahr!«
    Sie umarmten sich herzlich, und dann deutete Nyma auf Shan. Der Mann richtete sich auf, wurde schlagartig ernst und betrachtete Shan schweigend.
    Shan nahm ebenfalls den Hut ab und erwiderte den ruhigen Blick.
    »Du bist also dieser rechtschaffene Chinese«, stellte der Mann skeptisch fest. Er hob unversehens eine schwielige Hand, packte Shans Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte seinen Kopf von links nach rechts, als suche er nach etwas Bestimmtem.
    »Bloß ein Chinese, der um Hilfe gebeten wurde«, erwiderte Shan gelassen. Er war es gewohnt, daß Tibeter ihm anfangs mit Spott begegneten.
    Der Mann runzelte die Stirn. »Ich habe ihn mir irgendwie größer vorgestellt.«
    Er klang enttäuscht.
    »Sein Rücken war früher nicht ganz so krumm«, merkte Lokesh im gleichen trockenen Tonfall wie der Fremde an, »aber dann hat man ihn gezwungen, lao-gai-Straßen zu bauen.«
    Der Mann bedachte Lokesh mit einem gewichtigen Nicken, legte dann die gewölbten Hände an den Mund und rief einem der Salztrupps zu, ihr Besuch sei eingetroffen. »Ich bin Lhandro«, sagte er lächelnd und wies auf die kleine Gruppe Männer, die sich dem weißen Zelt näherte. »Wir aus dem Tal von Yapchi heißen euch willkommen.«
    »Yapchi?« fragte Shan überrascht und schaute unwillkürlich auf die Satteltasche, in der sie den chenyi-Stein verstaut hatten. »Aber das liegt doch mehr als hundertfünfzig Kilometer nördlich von hier.«
    Lhandro lächelte wieder und ließ Nyma ihre Begleiter vorstellen, während ein zweiter Mann aus dem Zelt trat und eine dongma mit frischem Tee brachte. Die Tibeter begrüßten einander, und Shan nahm die Zelte genauer in Augenschein. Sie entsprachen alle der traditionellen Jurtenform, aber nur die aus dem schweren schwarzen Filz gehörten dropkas , die das ganze Jahr auf der Changtang verbrachten. Die weißen Zelte waren aus Leinwand und lediglich für einen vorübergehenden Aufenthalt im Gebirge geeignet. Lhandro und seine Begleiter waren keine Nomaden. Sie mußten rongpas sein, erkannte Shan, Bauern aus dem Tal von Yapchi.
    Während Schalen mit schaumigem Tee gereicht wurden, deutete Lhandro auf die weiße salzverkrustete Ebene. »Unsere Leute machen das schon seit Jahrhunderten so. Die Regierung hat uns kleine Schachteln mit chinesischem Salz gegeben, auf denen Pandabären abgebildet sind, und uns Sklaven des Feudalismus genannt, weil wir herkommen.«
    Er zuckte die Achseln. »Aber das chinesische Salz macht dich schwach. Wir haben gesagt, das Lamtso-Salz schmeckt uns besser.«
    Er hockte sich neben Nyma und fing ein leises vertrauliches Gespräch mit ihr an. Shan sah, daß es sich um keine guten Neuigkeiten handeln konnte, denn Nyma starrte den Bauern bestürzt an, murmelte etwas, das nach einem Gebet klang, und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann schien ihr etwas einzufallen, und sie gab eine zornige Erwiderung. Lhandro riß die Augen auf und drehte sich beunruhigt zu Shan um. Sie mußte Draktes Tod und die merkwürdige letzte Warnung des purba geschildert haben. Als Nyma sich den anderen aus ihrem Dorf zuwandte, trat der rongpa mit sorgenvoller Miene wieder zurück ans Feuer. Die Nonne sprach nun laut genug, daß Shan einige Gesprächsfetzen aufschnappen konnte. Sie erzählte von der Begegnung mit dem weißen Minibus. Einer der Männer lief los, offenbar um die anderen Leute zu warnen. Es waren Schreihälse in der Gegend. Mehrere der Salzbrecher stellten die Arbeit ein und rannten in ihre Zelte. Die

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