Das tibetische Orakel
die Papiere auf. Er nahm den Paß des Amerikaners kurz in Augenschein und war danach verwirrter als je zuvor. Laut diesem Dokument handelte es sich bei Shane Winslow um einen amerikanischen Diplomaten.
»Es war nur ein Stück Papier«, sagte Lokesh verwundert und sah, wie der Amerikaner und der kleine Tibeter zu ihrem Geländewagen liefen. Winslow hatte seit der Abfahrt der Soldaten nichts mehr gesagt, sondern Shan und seinen Gefährten lediglich einen zufriedenen Blick zugeworfen und dann seinem nervösen Begleiter bedeutet, in den roten Wagen einzusteigen.
Sie schienen es genauso eilig zu haben wie Lhandro, der Nyma sofort im Laufschritt losgeschickt hatte, um die Karawane zur Straße zu holen.
»Doch auf ihm standen mächtige Worte«, wagte Lokesh eine vorsichtige Vermutung.
Shan sah seinen Freund an, dem man beigebracht hatte, daß es Meister gab, die besondere, geheime Worte schreiben konnten, bei deren Lektüre eine ungeahnte Kraft entfesselt wurde. In gewisser Weise hatte Lokesh in diesem Fall sogar recht. Shan vermochte sich kein Papier vorzustellen, mit dem ein Ausländer einen Mann wie Oberst Lin zu einer Umkehrung seines Verhaltens bewegen konnte, außer genau jenem Papier, das Winslow vorgelegt hatte. Einen gewöhnlichen Ausländer hätte Lin kaltlächelnd abgeschoben, und auch die Verhaftung und Folterung von verdächtigen Staatsbürgern im Angesicht eines Fremden bereitete ihm keine Probleme. Doch was auch immer er für Shan und dessen Begleiter vorgesehen hatte, er würde es nicht vor den Augen einer ausländischen Regierung durchführen. Und Winslows Paß besagte, daß er die amerikanische Regierung war oder zumindest ihr einziger Vertreter im Umkreis von wahrscheinlich mehreren hundert Kilometern.
Das erklärte allerdings nicht die Eile des Amerikaners. Er hatte dem skrupellosen Oberst mutig die Stirn geboten, und nun schien es, als würde er befürchten, Lin könnte seine Anwesenheit einer anderen Behörde melden. Vielleicht sogar Winslows amerikanischen Vorgesetzten. Shan konnte sich nicht erklären, weshalb ein amerikanischer Diplomat einen so unwirtlichen Ort aufsuchen sollte: ein vergessenes Dorf in einer abgelegenen Ecke der kargen Changtang.
Winslow warf seinen Rucksack hinten in den Wagen, umringt von einigen Dorfbewohnern, die sich leise bedanken oder ihn wie einen Glücksbringer berühren wollten. Er öffnete die Beifahrertür, und der nervöse Tibeter, der nicht einmal das Jackett ausgezogen hatte, ließ den Motor an. Dann griff Winslow in den Rucksack und holte einen ganzen Stapel Dalai-Lama-Fotos hervor, deren erstes Exemplar er dem kleinen Mädchen gab, dessen Bild die Soldaten zerrissen hatten. Ein Dutzend weiterer Fotos verteilte der Amerikaner an die begierigen Dörfler. Was auch immer seine offiziellen Pflichten sein mochten, Shan war sicher, daß die Verteilung gesetzwidriger Bilder des verbannten tibetischen Oberhaupts nicht dazu gehörte.
Als Winslow einen Fuß in den Wagen setzte, tauchten auf dem Pfad, der mitten durch das Dorf verlief, Anya und Tenzin mit den ersten Schafen der Karawane auf. Der Amerikaner zögerte, als würden die Tiere ihn an etwas erinnern. Dann nahm er eine Landkarte vom Armaturenbrett und lief zu Shan. Plötzlich fiel ihm wieder ein, wonach der Amerikaner unmittelbar vor der Ankunft der Soldaten gefragt hatte. Er hatte Einzelheiten über ihre Reise durch die Berge wissen wollen.
Winslow hielt die gefaltete Karte so, daß man die Region nördlich von Lhasa und einen Teil der Provinz Qinghai sehen konnte. »Sie sind aus Westen gekommen?« fragte er. »Können Sie es mir zeigen? Wie nahe am Kunlun?«
Damit meinte er die ausgedehnte Bergkette, die Tibet von den Moslemgebieten im Norden trennte. Er fuhr mit dem Finger die Provinzgrenze entlang. »Wo genau? Auf welcher Route?«
»Wir sind von Süden gekommen«, meldete Nyma sich hinter Shan zu Wort. Winslow nickte energisch, und sein Blick wanderte von der Karte zu den Schafen.
»Diese Taschen«, sagte er überrascht. »Salz? Ich habe gehört, daß früher Karawanen. Mein Gott, dies ist eine, nicht wahr?« rief er Shan zu und klang dabei fast neidisch. Sein Finger streifte auf der Karte umher. »An einem der großen Seen, richtig?«
»Am Lamtso«, antwortete Nyma begeistert.
Der Amerikaner nickte langsam und zeichnete mit dem Finger die Strecke zwischen dem See und dem Dorf nach.
»Suchen Sie jemanden?« fragte Shan.
Winslow nickte. »Eine Amerikanerin. Sie wird seit einigen Wochen
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