Das tibetische Orakel
fest. »Wenn das Auge jetzt zurückgebracht wird, dürfte das für deine Leute eher von Nachteil als von Vorteil sein.«
»Nein«, beharrte Lhandro ohne jeden Zweifel. »Es mag mehrere Möglichkeiten geben, aber das ist keine davon. Wir müssen den Stein um jeden Preis zurückbringen, auch wenn es bedeutet, der Armee oder diesem dobdob entgegenzutreten. Wir werden morgen ausruhen und dann.«
Er hielt inne, denn eine Tibeterin in einem abgetragenen roten Überkleid kam um die Ecke, mit einem langen Gürtel aus Yakhaar und mehreren schweren Halsketten aus Türkisen und Korallen. Sie warf Shan einen besorgten Blick zu und wandte sich dann kurz zu dem Haus um. »Du solltest dich lieber um die Schafe kümmern«, stieß sie leise und hastig hervor.
Lhandro stand auf und sah beunruhigt zu der Herde. Die Schafe lagen in etwa hundert Metern Entfernung friedlich am Bachufer.
Die Frau schaute zurück zum Feuer, wo zwei Kinder einen kleinen Blasebalg betätigten. Sie lebte hier und war vermutlich die Frau des Bewahrers, erkannte Shan.
»Ich begleite dich zu den Schafen«, sagte die Frau. »Wir sollten jetzt gehen.«
Lhandro trat einen Schritt vor und starrte abermals die Tiere an.
»Nicht du«, sagte die Frau sofort. Sie rang die Hände.
Shan erhob sich. Er verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte und weshalb die Frau so nervös war. »Möchtest du mit mir sprechen?«
»Nein«, erwiderte sie und stöhnte dann auf, weil in diesem Moment der Bewahrer um die Hausecke bog. Er war ein stämmiger Mann, etwas größer als Shan, trug einen breitkrempigen braunen Hut und eine jener Schaffellwesten, wie sie die dropkas bevorzugten. Er erstarrte, fixierte Shan mit einem Blick, der irgendwie entsetzt wirkte, und ging dann wortlos und ohne jede Vorwarnung wie ein Stier auf ihn los, stieß ihn dermaßen heftig zurück auf die Bank und gegen die Wand, daß der Aufprall ihm die Luft aus der Lunge trieb.
»Niemand hat dich hergebeten, Chinese«, rief der Mann voll kalter Wut. »Du bist hier nicht erwünscht.«
Shan erhob sich mit wackligen Knien und rang nach Atem. Der Mann stieß ihn erneut gegen die Wand. Ihm wurde schwindlig. Er sah, daß die Frau zum Feuer lief. Er hörte ein Pferd im Galopp und registrierte aus Richtung der Bäume eine Bewegung.
Lhandro legte dem Bewahrer eine Hand auf den Arm, aber der Mann wand sich und traf den rongpa mit einem Ellbogen, wobei ihm der eigene Hut vom Kopf fiel. Shan starrte ihn verwirrt an. Der Bewahrer war ein Chinese.
»Verschon uns mit deiner Mordgier und verschwinde!« brüllte der Mann. »Hier ist kein Platz für Gotteslästerer!«
Als er mit erhobener Faust auf Shan zuging, kam hinter ihm in einer Staubwolke ein Pferd zum Stehen, dessen Reiter sich sofort aus dem Sattel und auf den Rücken des Bewahrers stürzte. Es war Dremu. Er legte dem Mann einen Arm um den Hals, zog ihn zurück und rang ihn zu Boden.
Die Frau kreischte. Der Bewahrer zog einen Beitel aus dem Gürtel und hieb damit vom Boden aus nach Dremu, der sich durch einen Sprung in Sicherheit brachte und geduckt verharrte, als wolle er gleich wieder angreifen. Während Shan sich auf die Beine mühte, tauchten erst Nyma und dann Anya auf und schrien besorgt. Dremu hatte plötzlich sein Messer in der Hand.
»Das ist nicht der richtige Weg, Vater«, rief eine mahnende junge Stimme. Es war der Junge, der den Bewahrer von ihrer Ankunft unterrichtet hatte. Die Frau stieß ihn an, und er wiederholte die Worte, als könne nur er Shans Angreifer aufhalten.
Die Hand mit dem Beitel senkte sich, und der Bewahrer schien Dremu nicht mehr zu beachten. Er sah gehässig Shan an, dann wieder den Jungen.
»Diese beiden Männer«, meldete sich eine ruhige Stimme hinter Shan, »sie haben mich gefunden, als ich verletzt auf der Hochebene lag.«
Shan drehte sich um und sah den Mönch an der Hausecke stehen, gestützt auf Lokesh.
Der Bewahrer schien in sich zusammenzusacken. Er sah den Mönch, die Frau und den Jungen an, schlang die Arme um die Unterschenkel und ließ den Beitel zu Boden fallen. Dann barg er das Gesicht an den Knien. Kurz darauf hob er den Kopf, bedachte Shan mit einem mürrischen Blick und wandte sich an Lhandro. »Du hättest mich warnen müssen, daß ein Chinese kommt«, rief er, klang dabei aber eher bekümmert als wütend.
Der Junge trat behutsam an seine Seite und streckte einen Arm aus, um ihm aufzuhelfen. Während er sich auf die Beine ziehen ließ, wirkte der Bewahrer einen Moment lang alt und unsicher, doch
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