Das Tibetprojekt
die Motivation und den Zusammenhalt der
Truppe erschaffen. Dann kam mir der Gedanke mit der Apotheose. Erst erschien es mir auch absurd. Aber nach allem, was ich
seitdem erfahren habe, glaube ich wirklich, er wollte ein Gott werden.«
Decker überlegte kurz. »Ich bin mir sicher. Hitler wollte das Tor zur Hölle öffnen und die Dämonen befreien. Ganz ungeniert.
Er brauchte ja niemandem vorzumachen, er wolle Gutes tun wie die Dalai Lamas oder die Päpste. Die Nazis wollten genau diese
alten Schreckensgötter erwecken, die die Buddhisten nie unterdrücken konnten. Sie suchten die Verbindung zur Ur-Religion der
arischen Kriegerrasse.«
»Aber kann denn die Hölle auf der Erde liegen?«, wollte Li Mai wissen.
»Ja. In der Bibel liegt die Hölle auch direkt unter der Erde. Sie ist das Reich, in dem die Toten als kraftlose Schatten hausen,
und ein Bereich der Finsternis und Öde. |354| Wie der Gokang. Und was passt besser, als von Berlin aus den entlegensten und unzugänglichsten Ort der Welt zu wählen: Tibet.«
»Aber es ist doch eher ein theologischer Ort, nicht ein geographisch lokalisierbarer auf diesem Planeten.«
»Muss nicht sein. Es gab durchaus die Vorstellung, dass die Hölle sich auf der Erde befindet. Man nannte sie Gehenna und glaubte
eine Weile, sie sei im Hinnomtal, südlich von Jerusalem. Denn dort herrschte der Kult einer alles verschlingenden Macht, des
Molochs. Hitlers Idee war also im christlich-jüdischen Gedankengut verankert.«
»Hältst du das für Realität?«
»Ich versuche nur, mich in die Nazis hineinzuversetzen.« Decker blickte bewundernd auf die militärischen Navigationsinstrumente.
GPS ohne die zivile Streuung auf den Zentimeter genau. »Wir suchen die Hölle. Einen Geisterort. Allerdings hat er zwei Namen
und zwei Funktionen: Hel und Gokang. Der Unterschied liegt nur darin, dass die einen diesen Ort sehnlichst suchen, und die
anderen ihn ängstlich verbergen. Die Nazis wollten die Dämonen befreien und einen Gott schaffen. Und die Tibeter das Gegenteil,
nämlich die Götter vernichten oder gefangen halten.«
»Absurd«, sagte Li Mai.
»Leider nicht. Immerhin haben beide Parteien genau deswegen Killer auf jeden angesetzt, der ihr Geheimnis gefährdet.«
»Dann werden wir sie wahrscheinlich bald treffen.« Sie sah auf eine der vielen Digitalanzeigen. »Wir sind kurz vor Lhasa.«
Bei dem Gedanken wurde Decker flau im Magen. Er konnte nur hoffen, dass die vier Männer von der Spezialeinheit, die wie beim
Klosterbesuch hinten in der Kabine saßen, auch mit dieser Aufgabe fertig wurden.
|355| 23
Nach über zwei Stunden Flug erreichten Decker und Li Mai die mystische alte Hauptstadt Tibets. Das nächtliche Lhasa lag im
Dunkel unter ihnen. Es war ein Uhr morgens, und die Berge des Himalajas boten eine gewaltige Hintergrundkulisse im Mondschein.
Ihr Ziel, der Potala Palast, war deutlich zu erkennen und ragte auf seinem Hügel als Monument einer versunkenen Welt über
die Dächer um ihn herum. Ein böser Zauber schien den legendären Sitz der Götter gegen die moderne Stadt abzuschirmen.
Der Helikopter nahm Kurs auf den Palast und wurde langsamer. Sie suchten nach einem geeigneten Platz für die Landung. Dann
hatten sie ihn. Den Garten auf dem Dach des Palastes. Die Maschine senkte sich, und kurz bevor die Räder den Boden berührten,
sprangen die vier Soldaten heraus und sicherten den Landebereich. Ein widersprüchliches Bild: modernste Technik auf dem Sitz
der Götter, in dem die Zeit still stehen sollte. Li Mai verkürzte den Abschaltprozess und ließ die Systeme so weit laufen,
wie es für einen Alarmstart notwendig war. Dann legten sie die Helme ab und stiegen aus.
Fast spürte man, wie die Geister und Dämonen der Vergangenheit sie argwöhnisch dabei beobachteten, als sie in ihre Festung
eindrangen. Es war, als lastete ein Fluch |356| auf diesen Mauern, der die Seelen der Toten gefangen hielt. Ein Entkommen von hier schien nicht möglich. Ehrfurcht und innere
Finsternis stiegen in Decker auf.
Sie suchten nach den Treppen, die vom Dachgarten in den Palast führten, und fanden sie, wie auf ihren Plänen verzeichnet.
Als sie sich ihnen näherten, stolperten sie über irgendwelche Gerätschaften.
»Was ist denn hier los?«, fragte Decker und richtete seine Taschenlampe darauf. Die Sachen sahen fast wie eine Taucherausrüstung
aus. Etwas weiter entfernt lagen drei Fallschirme.
»Jemand ist vor uns hier angekommen«, sagte Li Mai.
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