Das Tibetprojekt
Himmler sind tot. Europa ist sicher vor ihnen.«
Decker ließ den Blick durch das Halbdunkel um sie herum wandern. Für den Augenblick schien der Weg frei. »Hoffentlich. Aber
jetzt der krönende Abschluss. Das Dritte Reich geht zwar unter und mit ihm alle Hoffnung und Ängste. Doch dann kommt Ihr auf
den Plan.«
|348| »Die Chinesen?«
»Ja, und das Unfassbare geschieht: China besetzt den Sitz des Teufels. Und was macht er?«
»Er unterliegt. Sein Reich ist nicht mehr. Der Teufel hat verloren. Dank Mao!«
»Hat er das?« Decker grinste rätselhaft. »Sein Stammsitz wurde auf sonderbare Weise erhalten. Der Dalai Lama entkommt auf
unerklärlichen Wegen. Und was macht er heute?«
Jetzt begriff Li Mai. »Du meinst doch nicht etwa, Satan ...?«
»Ist das so undenkbar? Unablässig bereist er die Welt. Kein Land hat er öfter besucht als ausgerechnet das relativ unbedeutende
Deutschland. Warum wohl? In seinen Adern fließt das Blut der finsteren Armee von einst. Erinnere dich, er ist ein Kampa.«
»Aber er war doch auch schon im Vatikan!«
»Das muss das Schlimmste sein: Wenn dem Papst in seinen eigenen vier Wänden der Vertreter Satans direkt ins Gesicht grinst.«
»Dann könnte man die Reaktion des Kardinals ja durchaus verstehen.«
»Ja. Und die Schmach geht weiter, denn der Teufel hat den Spieß umgedreht und schlägt Rom höhnisch mit seinen eigenen Waffen.
Denn jetzt missioniert der Dalai Lama in der christlichen Welt. Und er trifft den Vatikan dort, wo es am schmerzhaftesten
ist: im Glauben und der Gemeinde. Er ist ein Medienstar und wird von der ganzen Welt verehrt – mehr als der Papst selbst.
Er gewinnt neue Anhänger, die fast alle vom Christentum überlaufen. Tag für Tag werden es mehr.«
Li Mai schüttelte sich, als müsste sie etwas Klebriges loswerden. Sie holte tief Luft und sagte mit brüchiger |349| Stimme: »Sag mal, nimmst du das wirklich für bare Münze?«
Decker schaute aus dem Seitenfenster des Helikopters und zuckte die Achseln. »Wer weiß ...«
Sie flogen eine Weile, ohne miteinander zu reden. Unter ihnen zogen nun mit beruhigendem Abstand die majestätischen Berge
des Himalajas und das tibetische Hochland vorbei. Li Mai meldete sich wieder: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit
dem Vatikan recht hast.«
Decker überlegte. »Warum nicht? Es gibt so viele verborgene Seiten in der katholischen Geschichte. Denk doch mal an all die
umstrittenen Themen wie diese Evangelien, die irgendwo gefunden wurden.« Decker durchschoss ein Gedanke. »Am Ende haben diese
Missionare den Khan getötet und so Europa nach der Niederlage von Liegnitz vor dem Untergang bewahrt. Das wäre doch mal eine
heiße Story.«
»Mir wird das langsam alles etwas zu viel«, sagte Li Mai. »Die spinnen doch alle.« Sie zuckte die Achseln und warf einen Blick
auf die Uhr. Fast Mitternacht. Morgen früh musste sie mit ihrer Mission fertig sein. Das war die Deadline. Sonst wäre alles
umsonst.
Nach einer Weile meldete sich Decker wieder bei ihr.
»Der Eingang bin ich zu den Ewgen Qualen.«
»Was redest du da?«, fragte Li Mai.
»Eine Zeile aus Dantes ›Göttlicher Komödie‹, die mir in den Sinn kommt. Über die Hölle.«
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Der Kardinal hat es erwähnt. Ist dir eigentlich klar, dass wir vielleicht gerade die Hölle ansteuern? Oder das Tor zur Unterwelt?«
|350| Li Mai dachte an das bisher Gehörte. »Irgendwie schon. Seltsam. Normalerweise suchen die Menschen in Tibet das Paradies und
den Frieden.«
»So kann man sich irren. An einem Ort, wo Hitler nach Symbolen und Glaubensinhalten gesucht hat, findet man mit Sicherheit
keinen Frieden, sondern die Hölle. Ich glaube, ich verstehe jetzt, wie er sich das im Einzelnen vorgestellt hatte. Der Kardinal
hat mich darauf gebracht.«
»Du meinst, wie das mit der Nazireligion aussehen sollte?«
»Ja.«
»Lass hören.« Li Mai fand diesen Gedanken immer noch befremdend.
Die Hölle. Ausgerechnet in Tibet.
Decker sammelte sich. »Hitler wollte das Tausendjährige Reich bauen. Das ist ein alter biblischer Ausdruck. In der Offenbarung
des Johannes 20, 1 - 6 wird davon erzählt, dass Satan für tausend Jahre gebunden wird. Hitler wollte das umkehren und Satan für tausend Jahre auf
die Welt loslassen. Er wollte einen Kontakt zur Hölle herstellen.«
»Warum sollte er das gewollt haben?«, fragte Li Mai.
»Weil er die Kraft der Hölle für seine Weltherrschaft brauchte.
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