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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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Militärische Eroberungen genügen nicht, um sich dauerhaft
     zu legitimieren. Deshalb arbeitete er an einer Religion, um seine globalen Machtansprüche auf göttlicher Basis zu festigen.
     Genau wie die Pharaonen im alten Ägypten oder zahlreiche andere Tyrannen. Nur dass all diese Gottkönige lange tot waren. Der
     Dalai Lama hingegen war der einzige und wohl mächtigste im 20.   Jahrhundert noch lebende Gottkönig. Und er lebte in Tibet. Da Hitler in Tibet ohnehin den Ursprung der arischen Rasse vermutete,
     konnte er folglich annehmen |351| oder zumindest behaupten, dass sich der Sitz der alten arischen Götter auch dort befindet.«
    »Macht Sinn.«
    »Finde ich auch. Abgesehen davon glaube ich, dass Hitler noch etwas ganz anderes in Tibet vermutete. Eine Art mythologisches
     Zentralkonstrukt. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheint es mir.«
    »Was denn?«
    »Es ist eigentlich logisch und konsequent. Hitler vermutete in Tibet die Hel.«
    »Die Hel? Was ist das?«
    »Die sagenumwobene, uralte germanische Unterwelt. Man könnte auch sagen, Hitler suchte in Tibet den Hades oder den Kerker
     für den gefallenen Engel Luzifer oder das Gefängnis der bösen Geister. Aus
hel
entstand übrigens das englische Wort
hell

    »Wozu sollte er das brauchen?«
    »Hitler brauchte eine direkte Verbindung zur Unterwelt, der Hölle, um sich selbst als Gott etablieren zu können.«
    Li Mai musste sich erst noch an den Gedanken gewöhnen. »Das ist doch Irrsinn.«
    »Aber es hatte Methode. Richard Wagner hätte seine helle Freude an seinem Schüler gehabt: Hitler wollte quasi das Tor zur
     Hölle öffnen und die Schreckensgötter aus ihrem Verlies holen. Der Ritt der Walküren. Die ganze Welt eine einzige gigantische
     Bühne. Eine reale Götterdämmerung als die größte Inszenierung aller Zeiten. Der Führer wollte die alten Kriegsgötter der Arier
     heraufbeschwören und einer von ihnen werden. Die Nazis hatten ja die Hölle auf Erden bereits errichtet und brauchten jetzt
     nur noch den religiösen Überbau dazu. Und sie brauchten einen lebenden Führer, einen unantastbaren |352| Kriegsgott. Das war es wohl, worum es ging: Adolf Hitler als die Menschwerdung Wotans!«
    »Abgefahren!« Li Mai überprüfte den Navigationsmonitor. »Wir liegen gut in der Zeit.«
    Decker machte eine Faust. »Ja. So muss es gewesen sein. Hitler wollte eine Inkarnation Wotans werden. Das war sein Plan. Dazu
     brauchte er die Tibeter. So wie all die Dalai Lamas vor ihm wollte er zum lebenden Gott gemacht werden. Allerdings kein Gott
     des Mitgefühls, sondern ein Kriegsgott.«
    »Was für ein Spektakel!«
    »Ja, nur dass dies keine Oper war. Es sollte grausame Wirklichkeit werden.«
    Li Mai sah ihn fassungslos an.
    »Hitler wollte erst die Welt und dann die Seelen der Menschen beherrschen. Und dabei konnte er keine Konkurrenz gebrauchen.
     Man kann also annehmen, dass er nach der Vernichtung des Judentums als nächstes das Christentum aushebeln und den Vatikan
     stürzen wollte. Er wollte der einzige sein, an den alle glauben. Ein arischer Urgott. Damit hätte Hitler alle Maßstäbe und
     Rekorde gesprengt. Hitler als Herr der Welt und Kriegsgott. Und kein Gott neben ihm. Das wäre dann der ultimative Größenwahn
     in Vollendung.«
    Li Mai machte ein besorgtes Gesicht und schwieg. Dann überprüfte sie routiniert sämtliche Anzeigen. Decker sah ihr zu und
     nach einer Weile fragte er: »Und du bist also die Tochter des chinesischen Staatspräsidenten?«
    Li Mai wusste, dass die Frage irgendwann kommen würde. »Ja. Aber nicht offiziell. Und das muss für immer so bleiben. Ein chinesisches
     Staatsgeheimnis, sozusagen.« Sie tippte auf dem Bordcomputer herum und sah ihn nicht an.
    |353| »Verstehe.« Decker blickte in die Nacht.
Das erklärt einiges.
    Li Mai driftete in ihre eigene Vergangenheit ab. Ihr ganzes Leben stand unter dem Schatten dieses Staatsgeheimnisses. Ihre
     Ausbildung zur Agentin, ihre diplomatische Laufbahn als Deckung. Nie war ihr Vater da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte.
     Nie konnte sie wie die anderen ein normales Leben führen. Immer ging es um den Dienst an China. Die Pflicht.
    Während draußen die Berge von Tibet unablässig wie ein stürmisches weißes Meer vorbeizogen, warf sie Decker einen prüfenden
     Blick zu.
    »Meinst du wirklich, Hitler wollte eine Religion erschaffen und sich zum Gott erklären?«
    »Ja. Das denke ich. Zunächst habe ich geglaubt, er wollte nur einen Kriegerkult für

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