Das Tibetprojekt
letzten Sekunde seines Lebens noch stehend
seine Waffe abfeuern. Wenn aber ein Hohlspitzgeschoss seine volle kinetische Energie auf ihn abgibt, wird er nach hinten geschleudert
und seine inneren Organe werden zerrissen. Dann geht sein Gegner auf Nummer sicher. Ihr Mörder war ein Profi und hielt nichts
von der Genfer Konvention.«
Decker schluckte.
Li Mai fuhr fort: »Und das war offensichtlich nicht dieser Mönch. Das ist die Handschrift des anderen. Eines |365| zweiten Killers. Er ist also auch hier. Und wartet auf uns, denn sonst sind jetzt hier unten wohl alle tot.«
Dann zeigte sie auf die umherliegende Ausrüstung. »Sie hatten genug Sprengstoff dabei, um den gesamten Palast zum Einsturz
zu bringen und seine Rätsel für immer zu begraben. Aber dieser Killer hat sie in letzter Minute gestoppt. Sonst hätten diese
beiden hier den geheimsten Raum der tibetischen Geschichte in Staub verwandelt. Wir können dem Killer eigentlich dafür dankbar
sein.«
»Nur dass er es nicht für uns getan hat«, bemerkte Decker und dachte daran, dass dieser Killer jetzt nur noch ein Ziel hatte.
»Das klären wir alles später. Jetzt müssen wir den Tempel des Schreckens finden, bevor dieser Nazihenker uns findet.«
Sie suchten ein Weile und fanden dann die letzte Tür. Sie öffneten sie vorsichtig und waren nun im letzten und untersten Raum
des Potala Palastes. Die legendären Grabkammern von Schrongtsam Gampo, dem Gründer des tibetischen Reiches, und seiner Frau,
der chinesischen Prinzessin Weng Cheng.
Tiefer ging es nicht mehr. Und weiter zurück in der Zeit auch nicht. Hier hatte alles begonnen.
»Über tausend Jahre stehen hier vor uns«, sagte Decker und blickte sich um.
»Hier muss irgendwo der geheime Zugang zum Gokang sein«, durchbrach Li Mai die Stille.
Sie leuchteten den Raum aus.
Überall lagen Grabungsgeräte und modernste seismische Anlagen. »Das gehört dem Professor«, bemerkte Decker. »Weinberg ist
also hier gewesen. Er hat versucht, |366| hinter die Mauern zu blicken. Dazu hat er die Elektronik gebraucht: Um den verborgenen Raum zu finden. Er hat wie ein Geologe
gearbeitet, der Gesteinsschichten, Hohlräume und Rohstoffvorkommen sucht.«
»Aber wo ist die geheime Tür, für die er gestorben ist?«
Sie tasteten die Wände ab und suchten nach einer Stelle, wo der Professor vielleicht mit Werkzeug gearbeitet hatte. Decker
war aufgewühlt von diesem Augenblick. Nur wenige Meter trennten ihn und Li Mai von einer sensationellen Entdeckung und einem
Mysterium der Geschichte. Ein Raum, der die Strebungen der menschlichen Seele umfasste und die Werke ihres Irrsinns bewahrt.
Direkt neben ihnen lag ein Raum verborgen, der einen nie dagewesenen Blick in die Psyche und Leidenswege des Menschen zulassen
würde.
Sie mussten ihn nur finden.
Fieberhaft klopften sie die Wände ab und suchten nach Ritzen oder Hinweisen für einen Durchgang. Aber sie stießen überall
nur auf Felsen und massives Mauerwerk.
»Er muss hier sein!«, flüsterte Decker und schlug gegen die Wand. »Der Gokang ist hier. Bestimmt!«
»Aber wo?«, fragte Li Mai.
Beide knieten jetzt am Boden, um auch dort zu suchen. Ihre Finger wurden bereits kalt.
»Vielleicht können wir ja Weinbergs Geräte einschalten«, sagte Decker und griff nach einem der elektronischen Instrumente.
Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Jemand war ihnen gefolgt.
»Er ist da.« Li Mai griff nach einer Eisenstange, ihrer einzigen und vermutlich nutzlosen Waffe.
|367| »Wir sitzen in der Falle«, flüsterte Decker.
Li Mai überlegte: »Es gibt nur eine Möglichkeit zu entkommen. Wir müssten die Treppe hinaufstürmen und durch die Grabkammern
hinausrennen. Das wird den Kerl überraschen; dann trifft er uns vielleicht nicht.«
»Haben wir eine Alternative?«
»Ja. Hier warten, bis er uns findet und erledigt.«
»Klingt nicht so gut.«
»Dann los!«, sagte sie leise.
Sie rannten die Treppe hinauf um ihr Leben. Decker wartete nur darauf, dass ihm die Kugeln um die Ohren fliegen würden.
Aber es geschah nichts.
Sonderbar.
Sie rannten, so schnell sie konnten. Dabei liefen sie im Zickzack, jede Säule als Deckung benutzend, immer den erwarteten
Kugeln ausweichend.
Und dann verirrten sie sich.
An einer anderen Stelle im Palast kam Dadul wieder zu sich. Schwankend torkelte der Mönch durch den Raum, suchte Halt an einer
Säule. Langsam erholte er sich. Seine Augen hatten jeden Rest von Menschlichkeit verloren. Er
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