Das Tibetprojekt
Umgangsformen.
»Guten Abend, Herr Dr. Decker«, sagte der Botschafter steif. «Ich bin ebenso erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Exzellenz, bei allem Respekt, ich glaube kaum, dass die Vorfälle dieser Nacht von nationalem Interesse sind. Es wäre mir
recht, wenn Sie mein Privatleben etwas mehr respektierten.«
Wittenstein spähte durch die halb geöffnete Tür und sah Li Mai im Hintergrund der Suite. Jetzt verstand er, was Decker meinte.
Er kannte sie von verschiedenen offiziellen Empfängen. Die Szene war klein und Li Mai eine bekannte und begehrte Schönheit
auf dem Parkett. Aber warum war sie hier?
Auch Stahlmann sah die Chinesin und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Es konnte kein Zufall sein.
Li Mai nickte den beiden gelassen zu.
Sie sollen ruhig wissen, dass wir die Lage im Blick haben
. Die Andeutung eines ironischen Lächelns huschte durch ihr Gesicht.
Der Graf erwiderte den stillen Gruß. Unter normalen Umständen hätte er sich jetzt wohl zurückgezogen, aber er wusste, dass
Peking äußersten Einsatz von ihm erwartete. Wenn er jetzt zurückwich, würde Tang das sofort erfahren, und was dann geschah,
konnte ihm auf keinen Fall recht sein. Es gab nur einen Weg: vorwärts.
»Entschuldigen Sie vielmals die Störung, Herr Doktor«, begann er deshalb erneut, mit einer leichten Verbeugung. »Aber die
Vorfälle der Nacht sind in der Tat von äußerster Wichtigkeit und eher als das Gegenteil |67| von Völkerverständigung zu bezeichnen. Ich kann Ihnen aber versichern«, sagte er mit einem Blick auf Li Mai, »dass uns nicht
die internationalen Beziehungen, die Sie in Ihrer Wohnung pflegen, Sorge bereiten, sondern gewisse Vorfälle am anderen Ende
der Welt.«
Jetzt war Decker sprachlos.
»Im übrigen und wenn es Sie beruhigt, kommen wir nicht auf Anordnung des Außenministers, der aus gutem Grund von unserer Gegenwart
hier besser nichts wissen sollte, sondern auf direkten Wunsch der chinesischen Regierung.«
Es läuft nach Plan,
dachte Li Mai.
Tang Wu hatte gute Arbeit geleistet.
Decker wusste immer noch nicht, was er sagen sollte. Sein Adrenalinspiegel sank langsam ab.
Der Botschafter spürte, dass Deckers Aggressivität nachließ, und suchte seinen Vorteil zu nutzen. »Dürfen wir vielleicht eintreten?
Ich möchte nicht die Belange unseres Landes auf einem Hotelflur erörtern.«
Decker besann sich. Die Liebesnacht war ohnehin längst verdorben. Wozu sollte er sich gegen das Unvermeidliche wehren? Vielleicht
war es ja ganz interessant, was die beiden Schnösel zu sagen hatten.
Zögernd bat er den Botschafter und seinen Begleiter herein. Er führte sie ins Wohnzimmer und bat sie zu warten. Dann ging
er zurück zu Li Mai in die Bibliothek. »Verstehst du, was hier los ist?«, fragte er flüsternd und fasste sie an der Schulter.
»Nein«, wich sie aus, »und du solltest sie nicht zu lange warten lassen. Das Vaterland ruft dich.« Sie nahm ihre Sachen und
deutete an, dass sie gehen wollte.
»Wann kann ich dich wiedersehen?«, fragte Decker auf dem Weg zur Tür und verfluchte die beiden Männer, |68| die ihm einen Strich durch eine Nacht mit Li Mai gemacht hatten.
»Ich warte unten in der Bar im 22. Stock. Ruf an, wenn sie weg sind.« Mit diesen Worten schritt Li Mai durch den Korridor. An der Tür zum Aufzug drehte sie sich
noch mal zu ihm um. »Ach, übrigens, noch was.«
»Ja?«
»Das Auto«, lachte sie. »Starke Karre.« Dann verschwand sie.
Als der Aufzug weg war, kehrte Decker zu seinen ungebetenen Gästen zurück. Er war sehr gespannt auf das, was ihn erwarten
würde. Die beiden standen immer noch steif in der Gegend herum.
»Aber meine Herren!«, rief Decker mit gespieltem Entsetzen. »Bitte nehmen Sie doch Platz!«
Er zeigte auf die mit edelsten Stoffen bezogene Couch und warf sich lässig in einen Sessel. Er musterte die beiden einen Moment.
Langweiliger als diese zwei Bürohengste kann man sich wirklich nicht anziehen
. Decker dachte sehnsüchtig an das Kleid der schönen Chinesin. Der Botschafter nutzte die Pause, um sich und seinen Begleiter
vorzustellen. Erst dann setzte er sich. Der
Butler
wählte einen Sessel an der Seite, von dem aus er Decker im Auge behalten konnte, ohne selbst zu sehr im Blickfeld zu sein.
»Nun, meine Herren, da ich nicht verhindern konnte, dass Sie jetzt hier sind, würde ich gerne erfahren, was mir die Ehre verschafft«,
sagte Decker. »Möchten Sie etwas zu trinken?«
»Herr Dr. Decker«, sagte der
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