Das Tibetprojekt
gezielt. Der jetzige Dalai Lama ist
die 14. Reinkarnation des ersten. Er ist dem Kreislauf des Leidens entronnen und ins Nirwana eingegangen. Aus Mitleid kehrt er aber
über die bewusste Wiedergeburt zur Erde zurück, um den anderen Suchenden den Weg zur Erlösung zu zeigen.«
»Bewusste Wiedergeburt?« Decker legte sich eine Scheibe Schinken auf den Toast und sah zu, wie das dünngeschnittene Fleisch
transparent wurde. »Und das glauben Sie?«
|93| »Das
weiß
ich.« Patrick war nicht zu erschüttern. »Das Faszinierende an Tibet ist doch, dass der Erleuchtete hier eine Staatsform vorfindet,
in der er wirken kann. Als Regierungschef kann er seine Weisheit und seine Liebe zu den Menschen in der Politik umsetzen.
Er und die Tibeter tun niemandem etwas zuleide. Sie ruhen in sich und sind voller Mitgefühl für alle lebenden Wesen.«
Diese Aspekte dürften Hitler jedenfalls nicht interessiert haben,
dachte Decker im Stillen. »Patrick, Sie erzählen mir von dem, was wir in der Politikwissenschaft Utopia nennen. Eine Welt,
in der alles besser ist.«
»Dann lag Utopia in Tibet«, sagte Patrick. »Der tibetische Buddhismus geht aber noch viel weiter. Er enthält nämlich die Weisheiten
aller Kulturen und aller Zeiten. Er ist die Quintessenz all dessen, worüber sich die größten Geister der Welt jemals den Kopf
zerbrochen haben. Das Gedankengut aller Religionen und Philosophien ist in ihm enthalten. Die Übereinstimmungen reichen von
dem altägyptischen Buch der Toten und dem assyrischen Gilgameschepos über die alten Griechen, insbesondere Plato, bis hin
zu den Lehren Zarathustras oder Mohammeds. Es geht auch nicht um Logik oder Wissen alleine, sondern um die Umsetzung. Die
Technik zur Verwirklichung. Das kann man nur von einem Lama direkt lernen. Und das haben die Tibeter damals niemandem im Westen
verraten. Das ist erst möglich, seit sie hier bei uns leben.«
Decker nahm einen Schluck Tee. »Geht es denn auch ohne Lama?«
»Nein. Er ist der Lehrer, der uns auf dem Pfad anleitet.«
»So, so.«
»Noch was. Sie sind doch ein Fan der Tiefenpsychologie. Dann habe ich was für Sie, was Sie vielleicht überzeugt.«
|94| »Jetzt bin ich aber gespannt.«
»Okay. Wissen Sie, wer dem größten aller Geheimnisse so dicht auf den Fersen war wie sonst keiner im Westen? C.G. Jung. Der engste Schüler von Freud. Na, was sagen Sie jetzt?« Patrick grinste.
»Jung war doch bekennender Christ.«
»War er auch. Aber er hat sich auch sehr für den tibetischen Buddhismus interessiert. Er hat nämlich festgestellt, dass an
verschiedenen Punkten der Welt, von Griechenland bis Asien, oft zeitnah die gleichen Gedanken oder Kunstwerke auftauchten.
Aus all diesen übereinstimmenden Symbolen aller Völker entwickelte er die Lehre von den Archetypen und dem kollektiven Unbewussten.
Er kannte sich aus mit den Geheimlehren der Welt und sagte, dass darin ursprüngliches Offenbarungswissen enthalten ist. Nur
leider ist es überall im Laufe der Zeit verloren gegangen. Übrig blieben einzig die Bilder der Urerfahrung, die er nur noch
in Träumen wiederfindet. Und in tibetischen Mandalas.«
»Von welchem verlorenen Wissen reden Sie eigentlich?«
»Das verlorene Wissen ist vielleicht das größte Geschenk der Tibeter an den Rest der Welt. Es geht um das, was Paulus im Korintherbrief
meinte, als er schrieb: Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes. Es geht um die Vereinigung mit dem Göttlichen.
Das ist das, worauf es ankommt. Die größten Mystiker des Abendlandes wie Meister Eckhart oder Augustinus haben es ja auch
geschafft. Darum geht es. Und dieses Wissen, wie man sich mit Gott vereint, ist im Westen mit all seiner Aufklärung und seinem
Rationalismus verloren gegangen. Auch im Christentum existiert es nur noch als Floskel. Aber in Tibet kennen sie den heiligen
Weg noch. In |95| den entlegenen Klöstern auf dem Dach der Welt wurde die Urerfahrung des Göttlichen wie in einer Gralsburg bis heute erhalten.«
»Natürlich.«
Patrick lächelte milde. »Ihr Zynismus wird Ihnen noch vergehen, Dr. Decker, denn wie ich schon sagte, es geht nicht um Theorie, sondern um Praxis. Das heißt, alles was ich sage, lässt sich beweisen.«
Das einzige was hier vergeht ist meine Zeit, dachte Decker und schaute beiläufig auf seine Uhr
.
Aber er wollte nicht unhöflich sein. Also gab er sich weiter als guter Zuhörer: »So, wie denn?«
»Nun, was glauben Sie, was passiert, wenn Sie
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