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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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strategisch entscheidende Umwandlung der originären Laiengemeinschaft in einen
     Mönchsorden durch die direkten Schüler des Meisters. Dann gab es Streit und Eifersüchteleien unter den Jüngern. Um eine Spaltung
     zu verhindern, berief man das Konzil von Vaicali ein. Der Lieblingsschüler des Buddha, Ananda, |224| wurde beiseitegeräumt und andere übernahmen die Führung.«
    Li Mai nahm die Steine und drehte sich verdutzt zu Decker hin um.
    Decker wurde langsam neugierig, was das eigentlich für ein Tisch war, blieb aber noch beim Thema. »Es war wie das Konzil von
     Nicea unter Kaiser Konstantin mit Sektenbildung und unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten. Vor allem fiel die Entscheidung,
     dass künftig nur noch Mönche die volle Erleuchtung erlangen könnten.«
    »Aber es gab noch keinen Großgrundbesitz oder Klöster wie später in Tibet?«, fragte Li Mai.
    Decker nickte. »Genau. Die Lehre muss sich bis ungefähr 250 vor Christus gehalten haben. Dann erst fand das historische Ereignis
     statt, mit dem der Buddhismus seinen internationalen Eroberungszug antrat.« Er zeigte auf eine der historischen Landkarten.
     »Nachdem Alexander der Große vom Indus zurückgedrängt worden war, entstand in Indien das erste Großreich. Der Reichsgründer
     Ashoka trat als erster weltlicher Herrscher formell in den buddhistischen Orden ein.
    »Den kenn ich. Da gibt’s einen Bollywood-Film drüber.«
    »Wundert mich nicht. Ashoka war eine gewaltige historische Figur in Indien.«
    »Wie Karl der Große bei euch.« Sie legte wieder Gruppen auf dem Tischchen.
    »Ich sehe, du erkennst die Parallelen.« Decker benutzte die Gelegenheit und stellte sich neben sie. Er legte ihr sanft die
     Hand auf die Schulter und blickte auf den Tisch. Sie ließ es sich gerne gefallen. Decker nahm die Hand von der Schulter und
     ergriff ebenfalls ein paar der Steine. Sie |225| waren wunderbar glatt und schwer und lagen angenehm in der Hand. »Diesem Schritt lag allerdings keine spirituelle Einsicht
     zu Grunde, sondern knallhartes politisches Kalkül.«
    Li Mai dachte nach. »Du meinst, der Aufstieg und das Umfeld Ashokas in Indien ähnelten der Situation von Schrongtsam Gampo
     später in Tibet?«
    »Du bist eine gute Schülerin«, sagte Decker. »Das ist der springende Punkt. Das letzte Hindernis vor Ashokas uneingeschränkter
     Alleinherrschaft war die fehlende Anerkennung durch die Götter, denn die herrschenden Brahmanen schrieben seiner Maurya-Dynastie
     einen niederen Ursprung zu. Er war also gezwungen, die alten geheiligten Standesschranken niederzureißen, um sich und seine
     Gefolgsleute zu legitimieren. Für dieses Vorhaben war der Buddhismus hervorragend geeignet.« Er legte auch ein paar Steine
     auf das edle Holzbrett. Nur die Schwarzen.
    »Interessanter Gedanke«, sagte Li Mai und legte weiße Steine neben seine. »Aber war der Buddhismus denn dafür geeignet?«
    »Nun, er enthielt zumindest die nötigen Ansätze. Wie wir wissen, ignorierte Buddha alle bestehenden Götter und Standesschranken.
     Das genügte Ashoka. Er machte daraus eine Ablehnung aller bestehenden Gesellschaftsverhältnisse.« Er ließ seine Finger auf
     dem Stein.
    »Verstehe! Das wollte Schrongtsam Gampo auch. Die Entmachtung der alten tibetischen Priester und Fürsten.« Sie legte wieder
     einen Stein daneben und berührte leicht seine Hand.
    Decker spürte ihre zarte Haut. »So ist es. Jetzt weißt du, warum der Buddhismus nach Tibet kam. Allerdings geht das ganze
     noch weiter. Dieser neue Buddhismus |226| wurde zum Selbstläufer und geriet irgendwann außer Kontrolle.«
    »Außer Kontrolle?« Sie legte weiter Steine und sah ihn an.
    Decker hob seinen Blick von dem Brett und versank innerlich in ihren tiefschwarzen Augen. Der kurze Kontakt mit ihr wirkte
     noch nach. »Ja, das ist die Ironie der Geschichte. Erst sollte der Buddhismus für Ashoka die Brahmanen aus dem Weg räumen.
     Danach für Schrongtsam Gampo die Priester. Aber niemand konnte damals ahnen, dass der Buddhismus irgendwann die weltlichen
     Könige ganz beiseiteschieben und das Ruder selbst übernehmen würde. Es dauerte über tausend Jahre, aber dann hatte er das
     in Tibet erreicht.« Decker suchte nach passenden Worten. »Aus dem Instrument wurde die führende Hand, es entstand eine Theokratie.«
    »Sagen wir besser, die Herrschaft der Mönche oder Priester.« Sie schob mehrere Steine zu einem Haufen zusammen. »Dass der
     Dalai Lama ein
Gott
ist, kann ich nun wirklich nicht glauben.

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