Das Tibetprojekt
heiligen Bo-Baum im heutigen Bodh Gaya die Erleuchtung. Bis zu seinem Tod in Kushiganara um 480 vor Christus sammelte
der die ersten Anhänger um sich und gab die gefundenen Weisheiten weiter.«
»Wie Jesus mit seinen ersten Jüngern«, sagte Li Mai und setzte sich ihm gegenüber.
»Ja, so in etwa. Der Unterschied war nur, dass Jesus ein Handwerkerssohn und Buddha ein Prinz war. Und weil er die zeitgenössische
Philosophie kannte, war Buddhas Lehre wohl auch nicht leicht zu verstehen. Im Gegenteil. Sie war eine geradezu elitäre und
vornehme Erlösungstheorie für Intellektuelle. Buddha wirkte weder durch heißblütige Bußpredigten wie Jesus noch durch die
visionären Verkündigungen des arabischen Propheten. Buddha liebte den gepflegten philosophischen Dialog, in dem der Gesprächsgegenstand
ruhig, sachlich, emotionslos und systematisch ausgeschöpft wurde. Ein Denker und Philosophentyp.«
»Kennt man denn die Inhalte dieser ursprünglichen Lehre?« Sie nahm einen der Steine und warf ihn Decker zu.
Er fing ihn auf, innerlich amüsiert über diese Geste. »Das ist so schwer zu sagen. Mit Sicherheit gehören die sogenannten
vier edlen Wahrheiten über Wesen, Ursachen, Bedingungen und Mittel der Aufhebung des Leidens dazu. Aber metaphysische Spekulationen
und vor allem magische Praktiken wies der Gründervater mit Sicherheit zurück.«
»Ja, wie kam man denn dann ins Nirwana?« Sie warf ihm noch einen Stein zu und er fing ihn erneut.
»Nur sehr schwer. Der Weg zur Erleuchtung führte |222| für jeden einzelnen Schüler über eigenständige harte geistige Arbeit. Es gab keine Abkürzungen, keinen segenspendenden Priester
und keinen Gott oder Schützer, der dabei helfen konnte. Deswegen gab es im alten Buddhismus auch kein Gebet.«
Li Mai dachte an all die heutigen tibetischen Rituale und rollte die Augen. »Du meinst, die ganzen Räucherkerzen und Mantras
vernebeln den wahren Buddhismus?«
Decker ließ sich von ihrem Anblick und den Spielereien nicht ablenken. »Das Ziel war die Erreichung eines Gemütszustandes
der kühlen, stoischen Temperierung, erfüllt von einem starken, aber gegenstandslosen Liebesempfinden, frei von Furcht und
Leid, vor allem aber frei von dem sinnlosen Willen zu leben. Irgendwann erkannte der Schüler das karmische Gesetz von der
universellen Kausalität, konnte das Rad der Wiedergeburten verlassen und ins Nirwana einkehren. Es war ein langer Weg aus
interesseloser kontemplativer Versenkung auf der Basis rationalen Denkens.«
Li Mai stieß einen Pfiff aus. »Sieht heute ein bisschen anders aus.« Der nächste Stein kam auf Decker zugeflogen.
Er schnappte ihn aus der Luft. »Das ist leider wahr. Der alte Buddhismus war darüber hinaus noch eine völlig unpolitische
Religion. Gegenüber den indischen Göttern seiner Zeit und der Frage, ob und wie sie existierten, verhielt er sich gleichgültig.
Buddha stand weit darüber. Er lehnte sogar das Angebot ab, einen Orden zu gründen oder zu leiten. Er wollte keine Kirche und
keine Gemeinde. Das führt uns zu einem weiteren Punkt, den die Tibeter sicher auch nicht gern hören.«
»Der da wäre?« Sie setzte wieder zum Wurf an.
|223| Decker war zum Fangen bereit. »Die Lehre des Siddharta war nie als Mönchsreligion konzipiert worden.«
Li Mai warf und lachte laut. »Oh, oh. Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hatte der echte Buddhismus ...« Sie legte Steine in einer Reihe auf den Couchtisch und sagte dabei jedesmal: »Keine Götter, keine Dämonen, keine Mantras,
keine Gebetsfahnen, keine Gesänge, keine Trommeln, keine Glocken, keine Symbole, keine Rituale, keine Orakel, keine Klöster,
keine Lamas und keine Politik.«
Decker nickte. »Die Reihe ließe sich auch noch verlängern.«
»Dann hat sich der tibetische Buddhismus aber wirklich weit von der ursprünglichen Lehre entfernt.« Li Mai grinste.
»Ja«, bestätigte Decker. Seine Stimme war ernst. »Es ist nichts mehr original.«
»Das ist ja erschreckend.«
»Das sind die Tatsachen«, sagte Decker nüchtern.
»Was sagt denn der Dalai Lama dazu?«
»Kannst du dir sicher denken. Er schreibt, dass seine Religion getreu auf den Lehren des Buddhas gründet.«
Li Mai erhob sich und holte neue Steine von dem kleinen Tisch. »Wie ist es denn so weit gekommen?«
»Die Entwicklung fing schon in Indien an. Wie bei allen Religionen der Welt setzten schon bald nach dem Tod des Gründers die
ersten Machtkämpfe ein. Am Anfang stand die
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