Das Tibetprojekt
Was hältst du eigentlich von den Erzählungen des englischen Botschafters? Wenn es
ist, wie er sagt, dann nimmt es der Dalai Lama wohl mit der Wahrheit nicht sehr genau?«
»Möglich«, grübelte Decker. »Mir ist Seine Heiligkeit auch nicht gerade sympathisch. Aber es könnte noch etwas ganz anderes
dahinterstecken. Der General und der Botschafter hatten es angedeutet. Ich glaube jetzt in dem Kontext auch langsam, dass
der Gottkönig in Tibet überhaupt nichts zu sagen hatte.«
»Wie bitte?« Sie nahm einen Stein und warf in quer durch den Raum in den Sessel.
»Ich glaube, er ist bestenfalls eine Symbolfigur. Die wahre Macht liegt bei den Adelsfamilien und Äbten im |227| Hintergrund. Sie führen das Volk seit Jahrhunderten an der Nase herum und lassen es bluten. Sie benutzen den Dalai Lama wie
eine Puppe in ihrem Theater der Ausbeutung.«
»Heißt das, der Dalai Lama ist nur eine Marionette? Er kann reden, so viel er will, aber er kann nichts entscheiden? Dann
ist er ja im Grunde genauso ein Schönredner wie alle anderen selbsternannten Weltverbesserer auch.« Sie zeigte auf die Steine.
»Du bist dran.«
»Sieht ganz so aus. Der Dalai Lama und der tibetische Buddhismus sind nur eine Fassade. Es geht auch auf dem Dach der Welt
immer nur um das eine.« Decker nahm einen Stein und warf ihn ebenfalls in den Sessel. Er traf ihren wie beim Boccia.
»Guter Wurf.« Sie lachte. »Und das wäre?«
»Die Herrschaft von Menschen über Menschen.«
»Du meinst, diese Religion war nur dazu da, um die Menschen zu knechten?« Sie warf wieder.
»Na ja«, sagte Decker. »So hart will ich es nicht gleich ausdrücken. Sonst weinen Richard Geere und die übrigen Sympathisanten
des Dalai Lama noch blutige Tränen.« Er warf und verfehlte.
»Ich finde, wir brauchen auf diese Menschenrechts-Schickeria im Westen nicht so viel Rücksicht zu nehmen«, sagte Li Mai und
ihr Gesicht war plötzlich gar nicht mehr freundlich. Sie warf mit ziemlicher Wucht. »Wo es um den echten Hunger in der Welt
geht, tun diese Leute bis heute gar nichts.«
Decker erschrak. »Du meinst, die Leute in Tibet verhungern?«
»Nein«, sagte Li Mai. »Wir schicken da jede Menge Lebensmittel und andere Hilfsgüter rauf. Aber davon will ja keiner was wissen!«
|228| »Lass uns noch mal zum Buddhismus zurückkehren«, sagte Decker und zielte erneut. »Seit wir uns mit dem tibetischen Buddhismus
befassen, stoßen wir dauernd auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Und warum?« Decker machte eine kleine Pause, um die Wirkung
seiner Enthüllung zu steigern. »Weil wir von einer völlig falschen Annahme ausgegangen sind.« Er warf weit am Sessel vorbei
und der Stein knallte klangvoll gegen eine der Vasen dahinter. Das brachte Decker auf eine Idee.
»Vorsicht. Ming-Dynastie.« Sie lachte. »Was meinst du?«
»Ich will damit sagen, dass dieses Trugbild vom tibetischen Buddhismus noch viel fantastischer ist, als wir bisher gedacht
haben. Ich glaube, der tibetische Buddhismus wurde nicht einfach umgebaut. Er wurde auch nicht nur als Machtinstrument benutzt.
Ich glaube, er ist in Wirklichkeit gar keiner.«
»Kein was?«
Decker zielte genau, warf im hohen Bogen und der Stein verschwand in der Öffnung der Vase mit einem hellen
Klong
. »Kein Buddhismus.«
Li Mai sah erst die Vase und dann Decker an und sagte im besten Bayerisch. »Da legst di nieda.«
Decker lachte laut und griff nach der Whisky-Flasche. Die Frau war immer für Überraschungen gut. Er goss sich, nachdem Li
Mai heftig den Kopf geschüttelt und sich einen frischen Mangosaft aus der Pantry geholt hatte, zwei Finger hoch ein. Er nippte
bedächtig. »Ich bin mir fast sicher. Nicht nur der Dalai Lama ist eine Farce. Die ganze Religion ist ein einziger großer Schwindel.
Wenn wir das mal als Hypothese annehmen, dann lösen sich eine Menge Probleme auf einen Schlag.«
Li Mai nahm einen Schluck Saft. Sie neigte ihren Kopf |229| zur Seite, stützte ihn auf Zeigefinger und Daumen und betrachtete Decker. Sie fand es geradezu erotisch, ihm zuzuhören. Er
war irgendwie niedlich in seiner Ernsthaftigkeit.
»Ist was?«, fragte Decker.
»Nein. Klingt abgefahren.« Sie ging im Kreis um den kleinen Tisch und baute alle noch vorhandenen Steine ordentlich auf.
»Keineswegs. Überleg doch mal: Die S S-Expedition , die kriegerischen Kampas, die Andeutungen des britischen Botschafters. Es deutet doch alles darauf hin, dass etwas ganz
anderes dahintersteckt.«
»Du meinst, der
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