Das Tibetprojekt
erzeugte.
»Später.« Decker ließ sich nicht unterbrechen. »Also, die alten Priester. Sie beherrschten die Seelen der Menschen und damit
auch die Untertanen von Schrongtsam Gampo. Außerdem gab es auch noch die Stammesfürsten, die sich wahrscheinlich auch auf
den alten Glauben beriefen. Um nun die absolute Kontrolle über sein Reich zu erlangen und seinen Gefolgsleuten den sozialen
Aufstieg zu ermöglichen, musste Schrongtsam Gampo die Priester und die alten Herrscher aus dem Weg räumen. Das heißt, er musste
die Basis ihrer Macht zerstören.«
»Die alte Religion musste weg«, vervollständigte Li Mai.
»Richtig. Und deshalb beschloss der tibetische Großkönig, den Buddhismus einzuführen.«
Li Mai blieb stehen und sah Decker konzentriert an. »Soll das heißen, der Buddhismus wurde primär aus politischen Gründen
in Tibet eingeführt? Zum großen Reinemachen. Um die alte Religion zu verdrängen?«
»Ja. Ich weiß, es widerspricht allen frommen Legenden. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Buddhismus |219| einzig und allein ein neues Machtinstrument war. Frömmigkeit und Glaube spielten kein Rolle.«
»Der Dalai Lama würde das sicher anders sehen«, bemerkte Li Mai.
»Klar. Aber wir halten uns an die Fakten. Und die besagen, dass der König den Buddhismus ins Land holte. Und ohne gute Gründe
importiert doch kein vernünftiger Herrscher einen neuen Glauben und riskiert damit innere Unruhen.«
Li Mai bewegte sich wieder auf den kleinen Tisch zu. Sie nahm die Steine einzeln aus der Hand und legte sie nachdenklich auf
die Schnittpunkte des Liniennetzes, das sich über den Tisch zog. »Das ist wahr. Aber wie ist das passiert und warum hat er
den Buddhismus gewählt?«
Decker beobachtete ihre schlanken Hände, wie sie die Steine zu Mustern legten. »Um das neue Reich überhaupt verwalten zu können,
gab Schrongtsam Gampo in Kaschmir die erstmalige Entwicklung der tibetischen Schrift in Auftrag. Bis dahin war sein Volk wohl
ein ziemlich kulturloser Haufen von Barbaren. Mit der Schrift könnten erste buddhistische Texte nach Lhasa gelangt sein. Der
tibetische Herrscher las die Texte und fand einen Punkt von enormer strategischer Tragweite.«
»Und welchen?« Li Mai schüttelte den Kopf.
»Schrongtsam Gampo erkannte, dass mit dieser Religion schon einmal erfolgreich ein neues Reich aufgebaut worden war. Und dass
damit die geistliche und weltliche Konkurrenz erledigt wurde.«
»Stopp. Ich komme nicht mehr ganz mit«, unterbrach Li Mai, »beim Buddhismus denke ich an einen Weg zur Erleuchtung. Das ist
doch kein politisches Instrument.«
»Das habe ich bis gestern auch gedacht«, sagte Decker. |220| »Aber nach allem, was wir inzwischen über Tibet wissen, sieht die Sache wohl anders aus. Mit dem Buddhismus ist es wie mit
einem Küchenmesser, man kann damit die wundervollsten Dinge zubereiten oder jemanden umbringen. Ich denke, in Tibet ist klar,
welche der beiden Möglichkeiten gewählt wurde.«
»Der Buddhismus als Waffe?« Li Mai schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr Blick wieder auf das Brett mit den Steinen. »Das kann
ich mir nicht vorstellen!«
»Oh doch.« Decker holte tief Luft. »Bevor die buddhistische Lehre in Tibet eingeführt wurde, bestand sie bereits ein Jahrtausend
in Indien und den angrenzenden Ländern. Und da war sie auch schon ein politisches Instrument im Dienste der Mächtigen. Als
sie dann in Tibet zur Staatsreligion wurde, ist sie noch mal kräftig umgebaut worden.«
»Umgebaut?«, fragte Li Mai und legte wieder neue Konstellationen aufs Brett.
»Ja,« sagte Decker und folgte wieder ihren Händen, »umgebaut bis zur Unkenntlichkeit. Das ist der Knackpunkt. An der heutigen
Lehre des tibetischen Buddhismus ist fast nichts mehr original!«
Li Mai war überrascht. »Was wurde denn verändert? Und wie kommst du darauf?«
Decker setzte sich in einen der bequemen Sessel und machte eine ausholende Geste. »Unser Ausgangspunkt ist die Stunde Null
des Buddhismus. In dieser Zeit lebten die wilden Nomadenstämme im Hochland des Himalaja noch völlig abgeschieden vom Rest
der Welt und hingen ihrem alten Glauben an. Aber in der Nachbarschaft, in Indien, bildeten sich Hochkulturen. Dort beginnt
unsere Geschichte mit dem historischen Buddha, Siddhartha Gautama. Er wurde als Sohn eines Stadtfürsten aus dem |221| Adelsgeschlecht der Shakya in Lumbini im Jahre 560 vor Christus geboren. Nach langem, mühevollen Suchen erlangte er unter
dem
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