Das Tibetprojekt
blau-weißen Schimmer auf die Dinge in der Umgebung. Die Instrumentenpanels
der Kommunikationsanlagen und der Stereoanlage bildeten überall Lichtergruppen. Es sah ein bisschen wie auf der mahagonigetäfelten
Brücke eines Schiffes bei Nachtfahrt aus.
Decker hing seinen Gedanken nach. Seine Blicke wanderten über die mit Papieren und Büchern beladenen Arbeitsplatten. Er hatte
stundenlang gelesen und war dabei auf einige sehr interessante Dinge gestoßen. So langsam passte das große Puzzle zusammen.
Die Aussagen des Generals. Der englische Botschafter. Die Informationen von Li Mai. Und im Gegensatz dazu die Begeisterung
des Buddhisten in Frankfurt und die Schriften des Dalai Lama.
|216| Erneut blickte Decker auf die Fotografie aus dem alten Tibet, die er in einem der Bücher entdeckt hatte. Li Mais Worte fielen
ihm wieder ein:
Es gibt viel, was der Dalai Lama dem Westen nicht erzählt hat.
Tibet war völlig anders, als die Leute im Westen sich dachten.
Und Hitler muss es gewusst haben!
Er musste unbedingt mit Li Mai sprechen. Denn er kam jetzt an einen Punkt, wo sie einiges tun mussten.
Li Mai saß an einem Schreibtisch mit Monitor und las Deckers Notizen über das Gespräch mit dem General. »Sagenhaft. Du hast
eine Menge von dem alten Wu Ti erfahren.«
»Ich hab mich vor ihm gefürchtet«, gab Decker zu.
»Ach, das musst du nicht«, sagte Li Mai. »Er mag die Deutschen. Er ist lange in der DDR gewesen, und obwohl ihm das Regime
gar nicht passte, hat er eine Schwäche für die deutsche Kultur. Ich glaube, er trinkt sogar Bier.« Sie kicherte und hielt
hastig die Hand vor den Mund.
»Bier?« Decker schüttelte den Kopf. Das wäre ihm nie eingefallen. Eilig zog er das Foto hervor, das er mitgebracht hatte.
»Na, hast du in den Büchern noch etwas ausgegraben?«, fragte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Ja. Vielleicht sogar die Sensation.« Decker betrachtete ihre langen, schlanken Beine und bemerkte einmal mehr, dass Li Mai
eine äußerst attraktive Frau war.
»Eine Sensation?«, fragte Li Mai und lächelte. »Lass doch mal hören.«
Decker wurde rot und schob seine Gedanken hastig beiseite. Hier ging es um eine wissenschaftliche, nicht |217| um eine erotische Sensation. »Weißt du, es ist für einen Europäer alles sehr fremd. Deswegen erkennt man gewisse Zusammenhänge
und Strukturen nicht gleich, die in Europa sofort ins Auge stechen würden. Man denkt immer, in Tibet wäre alles ganz anders.
Aber im Grunde geht es auch im Land der Götter nur um eins.« Decker machte eine Pause, und Li Mai ergänzte: »Geld und Macht.«
»Richtig. Im Prinzip ist in Tibet vieles ähnlich gelaufen wie mit der katholischen Kirche.«
»Du meinst all die Gegensätze zwischen den Worten Jesu und der Praxis der Päpste?«
»Ja, so ungefähr.«
»Dann erzähl doch mal.« Li Mai drehte sich zu Decker um, schlug die Beine übereinander und lächelte wieder.
»Also gut.« Decker sammelte sich. »Beginnen wir im 7. Jahrhundert. Schrongtsam Gampo gründete jenes gewaltige Imperium in Tibet.«
»Ich weiß, der blutrünstige Eroberer, der Asien unterjocht hat.«
»Exakt. Nachdem er damit fertig war, stand er in Tibet vor einer völlig neuen Situation. Früher gab es auf dem Dach der Welt
nur umherziehende Nomaden, die niemals sesshaft wurden. Jetzt entstand plötzlich ein Großreich. Ein Staat und eine Hauptstadt.
Und am Hof des Herrschers bildete sich eine neue Gesellschaft aus Ministern, Beamten und Generälen. Mit ihnen war er einstmals
in den Krieg gezogen und groß geworden. Jetzt sollten sie ein Reich verwalten, Karrieren machen. Und da stieß er auf ein Problem,
das er militärisch nicht lösen konnte.«
»Interessant. Welches neue Problem?« Li Mai stand auf und ging zu einem kleinen hölzernen Spieltisch. Darauf |218| standen zwei Holzdosen mit schwarzen und weißen Steinen. Sie nahm ein paar in die Hand und ließ sie mit geschickten Fingern
umeinander kreisen.
Decker schaute ihr etwas irritiert zu. »Seine neuen Gegner waren jetzt nicht mehr die Feinde außerhalb Tibets, sondern Leute
im eigenen Land. Große Teile der Macht lagen nämlich in den Händen der alten Priester und der Anhänger der alten Religion.«
»Halt«, unterbrach ihn Li Mai, »von dieser alten Religion habe ich auch gerade gelesen. Hast du was dazu gefunden?« Sie schlenderte
durch den Raum und ließ die Steine von der einen in die andere Hand fallen, was ein leises Klickern
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