Das Tibetprojekt
Augenblick rief Li Mai: »Ich habe den Bericht!«
»Welchen?«, rief Decker zurück.
»Den von der S S-Expedition . Ich sende ihn dir. Unsere Leute glauben allerdings, dass er keine heißen Eisen enthält.«
Decker sank der Mut. Er hatte sich von diesem Dokument viel erhofft. »Wieso das denn? Wie können sie das sagen?«
»Nun«, sagte Li Mai, »die Spuren sind offensichtlich. Es hat jemand gründlich aufgeräumt und eine Menge vernichtet. Wer auch
immer, wann auch immer, aber alles, was noch im Archiv liegt, scheint einer Zensur unterworfen worden zu sein.«
Decker öffnete das Dokument mit einer Mischung aus Andacht und Abscheu. Auf dem Monitor erschienen der Reichsadler, das Runen-Emblem
der SS und darunter der Vermerk »Abteilung Ahnenerbe«. Ein Schauder überlief ihn, als er daran dachte, in was für einer Zeit
und unter welchem finsteren Regime das Dokument entstanden war, das jetzt so selbstverständlich auf dem Bildschirm |243| stand. Der Bericht war Teil einer düsteren, grausamen Weltsicht. Er war ein Element im okkulten Gedankengebäude der Nazis.
Gekürzt oder nicht. Es war ein Bauteil des Horrors.
Decker holte Luft und sah zu Li Mai hinüber. »Ich glaube, ich bin jetzt erst einmal eine Weile beschäftigt.«
»Und ich kümmere mich um diesen Experten für asiatische Religionen, den du haben wolltest«, sagte Li Mai.
Damit wandte er sich dem Bericht zu. Seite um Seite arbeitete er sich durch das scheinbar endlos lange Dokument. Die Einzelheiten
der Expedition, ihre Durchquerung des unerforschten mystischen Hochlands von Tibet, ihre Ankunft im exotischen Lhasa und schließlich
die Audienz beim Dalai Lama waren wertvolle Augenzeugenberichte einer vergangenen Epoche. Aber Li Mai hatte recht. Wirklich
Neues oder Brisantes war nicht zu finden. Auch gab nichts von alledem Antworten auf die Rätsel, die Decker beschäftigten.
Er las und las. Die Stunden vergingen. Aber er fand nichts. Was hatten die Expeditionsmitglieder wirklich in Tibet gesucht?
Was hatten sie ihrem »Führer« gemeldet, als sie zurückkamen?
Als seine Augen anfingen zu schmerzen und er eine Pause brauchte, stand er auf. Die ganze Situation, in der er sich befand,
ging ihm durch den Kopf. Die Schönheit von Li Mai und ihre ungeklärte Beziehung, die angefangene Affäre, die noch nicht ans
Ziel gelangt war. Dann wieder dachte er an seinen Auftrag und die großen Zusammenhänge, in denen er scheinbar hilflos herumirrte.
Alles drehte und vermischte sich. Er ging an die Bar und machte sich einen Kaffee. Verschwendete er gerade seine Zeit mit
diesem Bericht und riskierte nebenbei noch sein |244| Leben? Wo waren die Antworten und was kam von da draußen irgendwo auf ihn zu, von dem er nichts wusste? Decker schob die Frage
beiseite und kippte den Kaffee herunter.
Dann las er weiter. Und weiter. Er trieb sich an und kämpfte sich durch Berge von Informationen, die er nicht brauchte. Anscheinend
waren die wirklich kritischen Fakten tatsächlich gelöscht worden. Große Teile des ursprünglichen Dokuments galten sicher als
streng geheim und waren nur Himmler und dem innersten Kreis der Nationalsozialisten zugänglich. Oder das Wichtigste war niemals
bis in die Archive gelangt.
Als er schon an dem Punkt angelangt war, das ganze Dokument als sinnlos zu betrachten, fiel sein Blick auf einen kleinen,
in sich geschlossenen Nebenbericht. Die Art, wie er abgelegt und kommentiert war, zeichneten ihn als belanglos für seine Autoren
und den Zensor aus. Er war als Randnotiz gedacht und wurde eingeleitet als unterhaltsame Anekdote. Decker wollte nicht noch
mehr Zeit verlieren und ihn deshalb schon überspringen, als die ersten Worte ihn förmlich ansprangen. Er rieb sich die Augen
und begann ein wenig genauer zu lesen.
Mit einem Mal schwand all seine Erschöpfung. Sein Puls legte zu und sein Verstand geriet in helle Aufregung. So schnell er
nur konnte, raste er über die Zeilen. Diese kleine Randnotiz enthielt einen wichtigen Schlüssel. Und möglicherweise noch mehr.
Er hob den Kopf. »Li Mai, schau dir das mal an, das ist wirklich unglaublich!«
Sie kam und er drehte den Laptop zu ihr. »Was hier steht, ist ziemlich brisant, aber es wurde nie vernichtet, weil es bloß
als Folklore betrachtet wurde.«
|245| »Du siehst müde aus. Darf ich es vorlesen?«, fragte Li Mai. Decker lehnte sich zurück und machte es sich bequem. Li Mai setzte
sich und begann laut vorzulesen:
Das Neujahrsfest
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