Das Titanic-Attentat
und damit enger Geschäftspartner von J. P. Morgan. Also jener Mann, dessen Lebenswerk die
Olympic
-Klasse darstellte, der am meisten über die Entstehungsgeschichte wusste, unter dessen Augen beide Schiffe entstanden waren und zum Teil auch repariert wurden (
Olympic
). Und der nun die Jungfernfahrt eines seiner Riesenbabys angeblich wegen einer schweren Erkältung absagte, die sich in einen Lungenentzündung verwandelt hatte. [69]
Nun gibt es aber auch in diesem Fall wohl nichts Gesünderes, als sich auf einer privaten Promenade der
Titanic
in der frischen Seeluft in einem Liegestuhl zu rekeln und sich von Ärzten, Schwestern und Bediensteten verwöhnen zu lassen. Denn das Interessante ist ja, dass die Reisen mit diesen Luxusschiffen gerade eben nicht beschwerlich, sondern besonders angenehm waren – erst recht natürlich, wenn man sich die besten Suiten aussuchen konnte. Normalerweise würde man sich die Gelegenheit wohl nicht nehmen lassen, sich vor der reichen Elite des Planeten als Ideengeber und Erbauer der
Olympic
-Klasse feiern zu lassen.
Die Reiseunlust der obersten Führungsebene erwies sich jedoch als äußerst ansteckend, so dass in Morgans Bekanntenkreis plötzlich die Seefahrtsmüdigkeit grassierte. Bisweilen kennt man sogar die Gelegenheit, bei der sich die Bedauernswerten wahrscheinlich infizierten, so dass sie von der Reise mit der
Titanic
Abstand nahmen.
Robert Bacon zum Beispiel, amerikanischer Botschafter in Paris und ein früherer Geschäftspartner Morgans, stornierte samt Frau und Tochter die Reise, »kurz nachdem Morgan sie auf dem Weg nach Aix besucht hatte«. [70] Mr. Bacon fiel ein, dass er seinem Nachfolger im Botschafteramt beim Einziehen helfen müsse.
Auch Henry C. Frick, ein Freund und Stahlmagnat wie J. P. Morgan, sagte ab, weil die Reise auf dem komfortabelsten Luxusliner aller Zeiten für seine schwer leidende Frau (Mrs. Frick hatte sich den Knöchel verstaucht) offenbar als nicht ratsam erschien, und das, obwohl die gebuchte Millionärssuite sogar über eine eigene Promenade verfügte.
Auch Mr. and Mrs. J. Horace Harding von der Investmentbank C. D. Barney & Co bekamen kalte Füße bzw. verzichteten auf die Millionärssuite, um »mit der schnelleren
Mauretania
heimwärts zu reisen.« [71] Wobei man »schneller« allerdings nicht mit »früher« verwechseln sollte. Denn laut Molony fuhr die
Mauretania
erst am 14. April 1912 in Queenstown ab und wäre daher auf jeden Fall später in New York angekommen.
Ziemlich konkrete Vorahnungen
Ebenso enttäuschend für die Schwerreichen an Bord der
Titanic
mag gewesen sein, dass auch andere Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft ausstiegen, bevor sie überhaupt eingestiegen waren, zum Beispiel das Ehepaar Mr. George W. und Edith Vanderbilt.
Die Vanderbilts stammten aus dem Dampfschiff- und Eisenbahnimperium Vanderbilt, waren also in denselben Branchen unterwegs wie
Titanic
-Eigner J. P. Morgan. Einem Bericht der
New York Times
vom 30. April 1912 zufolge stornierten die Vanderbilts die Reise wegen dunkler Vorahnungen von Edith Vanderbilts Mutter Susan. Da diese jedoch bereits 1883 verstorben war, kann in Wirklichkeit nur Edith Vanderbilts Schwester gemeint gewesen sein, die ebenfalls Susan hieß.
Nun sind »dunkle Vorahnungen« natürlich eine Sache – Hals über Kopf eine bereits gebuchte Reise abzusagen eine andere. Es muss sich schon um sehr konkrete und überraschende »Vorahnungen« gehandelt haben, denn die Vanderbilts stornierten ihre Reise mit der
Titanic
so kurzfristig, dass keine Zeit mehr blieb, ihr Gepäck oder doch wenigstens ihren Diener Edwin Wheeler vom Schiff zu holen.
Da sich die Vanderbilts und die Morgans kannten, muss die Frage erlaubt sein, ob sie etwa ebenfalls von Morgans plötzlicher Unlust infiziert bzw. »inspiriert« wurden, die Reise ohne Wiederkehr mitzumachen. Wobei solche »Vorahnungen« oder »Träume« natürlich Chiffren für konkrete Informationen oder Warnungen sein können, die man nur ungern beim Namen nennen will.
Ein Mr. Bill und seine Gattin sagten ab, weil Mrs. Bill einen Alptraum gehabt hatte, in dem die
Titanic
unterging.
Interessanterweise ist die oben zitierte Liste von 58 Stornierungen nicht einmal komplett. Vielmehr fehlen darauf weitere hochkarätige Namen, wie beispielsweise der von dem Schokoladenkönig Milton S. Hershey.
Sein Ticket, für das er eine Anzahlung von stolzen 300 Dollar geleistet hatte, ist heute im Hershey Museum in Pennsylvania
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