Das Todeskreuz
plus/minus eine halbe Stunde. Noch Fragen?«
»Ich wusste gar nicht, dass sich auch nach dem Tod noch Hämatome
bilden können?«
»Julia, du solltest beim nächsten Mal besser aufpassen, wenn
du wieder bei uns bist, um dein Wissen aufzufrischen. Das hat ja
nichts mit dem Blutfluss zu tun, der sofort stoppt, sobald das
Herz aufhört zu schlagen, sondern mit den Körperstellen, die
durch Gewalteinwirkung in Mitleidenschaft gezogen wurden. Da
hat sich ja schon der berühmte Bluterguss gebildet. Aber zu was
anderem. Die Sittler war körperlich in einwandfreiem Zustand.«
»Stopp! Keine Leberschäden oder ...«
»Wie kommst du darauf?«
»Mir wurde berichtet, dass sie getrunken und Medikamente,
vor allem aus der Reihe der Benzos, geschluckt haben soll, und
zwar jahrelang von morgens bis abends.«
»Mag sein, doch ihre Leber war völlig intakt, ebenso das
Pankreas. Und wir haben auch keine übermäßig hohe Alkoholkonzentration
im Blut ausmachen können.«
»Ist das nicht ungewöhnlich?«, wollte Durant wissen.
»Nicht unbedingt. Manche Abhängige leben jahrzehntelang
von Alkohol und Tabletten, ohne physische Schäden davonzutragen, bei andern schnellen die Leberwerte schon nach kurzer Zeit
in astronomische Höhen. Sie scheint's vertragen zu haben, wenn
es denn stimmt, was die andern dir erzählt haben.«
»Seltsam. Aber gut, ich nehm das mal so hin. Was ist mit Geschlechtsverkehr?
Hatte sie welchen?«
»Ich nehm's an, doch ganz bestimmt nicht am Freitagabend.
Mit Sicherheit hätte sie aber gerne welchen gehabt«, antwortete
Andrea.
»Danke für die Info, wir telefonieren später noch mal, oder ich
schau bei euch rein. Wie lange bist du in der Gruft?«
»Bis vier, maximal halb fünf.«
»Ich ruf vorher an. Untersucht doch bitte mal ihr Blut auf Benzos,
irgendwie passt da was nicht.«
»Wenn du willst. Aber das Ergebnis kriegst du nicht mehr
heute. Bis dann.«
Durant drückte auf Aus und passierte kurz darauf das Ortsschild
von Mörfelden. Nach etwa zehn Minuten hatte sie die gesuchte
Adresse gefunden. Sie stieg aus und trat auf die Haustür
zu. Noch bevor sie die Klingel betätigte, ging die Tür auf, und
eine kleine ältere Frau Mitte oder Ende sechzig kam mit einer
Mülltüte heraus. Sie blieb stehen und tastete die Fremde mit
misstrauischem Blick ab. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und
ihre dunklen Augen wirkten müde. In ihre Gesichtszüge hatten
die Jahre tiefe Furchen gegraben, vor allem auf der Stirn, um die
Nase und den Mund.
»Ja, bitte, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit dunkler,
rauchiger Stimme.
»Durant, Mordkommission. Frau Sittler?«
»Oh. Meine Enkelin hat mir Ihr Kommen bereits angekündigt.
Warten Sie, ich muss nur schnell den Müll entsorgen.«
Durant wartete, bis die Tonne wieder zugemacht wurde, und
folgte Frau Sittler in die Doppelhaushälfte und das Wohnzimmer,
wo ein großer Strauß bunter Blumen einen frischen Duft verbreitete. Noch bevor sie sich setzten, sagte Frau Sittler: »Darf ich
Ihnen etwas anbieten? Einen Tee vielleicht?« Sie sah die Kommissarin
mit einem bittenden Blick an, dem Durant nicht widersprechen
wollte.
»Gerne, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
»Nehmen Sie doch Platz, ich setz schon mal das Wasser auf«,
sagte Frau Sittler und verschwand in der Küche.
Durant sah sich um. Es war ein einladendes und ungewöhnlich
modern eingerichtetes Zimmer. Sie hatte in der Vergangenheit oft
mit älteren Menschen zu tun gehabt, und meist spiegelte die Einrichtung
auch das Alter der Bewohner wider. Ganz anders hier,
helle Farben dominierten das Bild, auf dem großen Wohnzimmertisch
stand eine große Vase mit frischen roten Rosen, ein
breites und hohes Fenster gab den Blick auf den kleinen liebevoll
gestalteten Garten frei. Auf einem Sideboard stand ein Foto ihres
Mannes, in der rechten oberen Ecke des Rahmens ein Trauerflor,
daneben befanden sich noch jeweils ein Foto ihrer Tochter und
der Enkelin. Durant schaute sich das Foto von Corinna Sittler
genauer an. Es zeigte eine noch junge Frau mit schulterlangen
schwarzen Haaren und dunklen Augen, deren Lächeln etwas aufgesetzt
wirkte, fast wie eingefroren. Ganz anders das Foto von
Leslie, die einfach nur in die Kamera strahlte.
Nachdem sie sich lange genug umgesehen hatte, setzte sie
sich in einen Sessel und wartete, bis Frau Sittler mit einem silbernen
Tablett zurückkam, auf dem eine Kanne, zwei Tassen mit
Goldrand und Schälchen mit braunem
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