Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
das arme Kind nur ins Wasser gelangt?«, fragte einer der Schaulustigen mitleidig. »Hat denn niemand achtgegeben?« Daraufhin blickten sich auch die anderen um, gaben unwillkürlich eine schmale Gasse zur Themse frei und spähten zum Flussufer hinüber, wo Männer mit langen Stangen im Wasser stocherten.
Nigel weinte vor Dankbarkeit, weil ihm der Herr das Leben seines Sohnes zum zweiten Mal geschenkt hatte, wiegte das greinende Kind in den Armen und küsste ihm die Stirn. Doch schien ihm auch davor zu grauen, was die Männer noch aus der Themse befördern mochten.
»Wir haben etwas!«, rief einer von ihnen schon kurz darauf und zog mithilfe seiner Kumpane Ewes erschlafften Körper an Land.
»Sie muss ins Wasser gegangen sein«, war die Stimme einer Frau zu hören. Die Schaulustigen bekreuzigten sich. »Sünde, unverzeihliche Sünde!«, rief ein anderes Weib zutiefst empört.
Weit schlimmer aber, als Gottes Gesetz zu missachten und sich das Leben zu nehmen, fand Catlin, dass Ewe ihren Sohn mit in den Tod hatte nehmen wollen. Ein unschuldiges, nichts ahnendes Kind, um ein Haar getötet von der eigenen Mutter. Catlin blickte zu Nigel hinüber, der den Jungen zärtlich an sich drückte, und empfand tiefes Mitgefühl mit ihm. Warum nur hatte sich Ewe umgebracht? Nigel war ihr ohne Zweifel ein guter Gemahl gewesen, außerdem hatte sie weder an Geldnot gelitten noch andere Sorgen gehabt. Ob sie von Nigels Diebeszügen gewusst hatte? Hatte sie befürchtet, schon bald auf der Straße zu enden? Wie verzweifelt musste sie gewesen sein, das eigene Kind mit in den Tod zu reißen. Aber vielleicht hatte sie Nigel den Sohn auch missgönnt. Oder aber Nigel war gar nicht der Vater des Jungen! Catlin schlug beschämt die Augen nieder. Nur weil sie ihren Gemahl hintergangen hatte, musste nicht auch Ewe einen Fehltritt begangen haben. Möglicherweise hatte sie ihren Sohn einfach so sehr ins Herz geschlossen, dass sie ihn nicht hatte zurücklassen wollen.
Die Tote war achtlos auf dem Boden abgelegt worden, ihre Glieder wirkten verrenkt. Am liebsten hätte Catlin den Körper gerade ausgestreckt und der armen Frau die Hände auf der Brust gefaltet. Einer Selbstmörderin indes war jegliche Achtung versagt. Den Menschen, die ihr Leben freiwillig beendeten, spendete die Kirche keinerlei Beistand. Ewe würde weder in geweihter Erde beigesetzt werden noch eines Tages ins Paradies eingehen. Bei dem Gedanken, dass sie auf ewig im Fegefeuer die schlimmsten Qualen erleiden sollte, schauderte Catlin.
Als seine junge Frau am Abend nach Hause kam, erschrak John. Wie blass und elend sie aussah! In den vergangenen Tagen war ihm die Übelkeit aufgefallen, mit der sie gekämpft hatte. Auch die unbewusste Geste, mit der ihre Hand hin und wieder über den Leib gekreist war, hatte er bemerkt und gewusst, dass sie guter Hoffnung war. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte, war ebenfalls unwohl gewesen, als sie ein Kind unter ihrem Herzen getragen hatte. Sein Kind. John tat, als falle ihm Catlins angestrengtes, müdes Aussehen nicht auf.
»Ist spät«, sagte er einsilbig.
»Nigels Frau hat sich ertränkt«, murmelte Catlin matt und setzte sich an den Tisch, auf dem ein unberührter Teller mit Grütze stand.
John konnte nicht verstehen, wie eine vom Leben verwöhnte, wohlhabende junge Frau eine solche Sünde begehen konnte, während andere verzweifelt um ihr Dasein kämpften. »Iss etwas!« Er stellte sich hinter Catlin und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Auch wenn die Grütze längst kalt ist.« Es ärgerte ihn, dass er vorwurfsvoll klang, wollte er doch vielmehr Verständnis für ihren Kummer zeigen. Schließlich wusste er, wie viel ihr die Freundschaft mit Nigel bedeutete, und verstand wohl, dass sie dem jungen Kaufmann in einer solch schwierigen Lebenslage zur Seite stehen wollte. Obgleich er Nigel nicht traute, fühlte er dennoch mit ihm. Sein Weib zu verlieren, das wusste er aus eigener Erfahrung, war ein unerträglich harter Schicksalsschlag. Als Catlin keine Anstalten machte, etwas zu sich zu nehmen, deutete er auf den Holzteller, doch sie schüttelte nur den Kopf und stützte ihn verzweifelt in beide Hände.
»Sie hat seinen Sohn mit ins Wasser genommen«, murmelte sie. »Wie konnte sie nur? Eine Mutter muss ihr Kind doch lieben und beschützen.« John spürte an dem Beben in ihren Schultern, dass sie weinte. »Ich …«, setzte sie an, und mit einem Mal befürchtete John, sie könne ihm beichten, dass sie ein Kind
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