Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
erwartete.
»Schsch!«, unterbrach er sie mit weicher Stimme. »Denk nicht mehr daran! Der Junge ist unschuldig und getauft, er wird beim Herrn im Paradies weilen.« Obwohl er überzeugt war, dass es für die Hinterbliebenen nichts Schlimmeres gab, als ein Kind zu Grabe zu tragen, versuchte er Trost zu spenden.
Catlin hob den Kopf und blickte mit einem schiefen Lächeln zu ihm auf. »Das Kind lebt!«, sagte sie, lachte erleichtert und weinte gleich darauf so bitterlich, dass John sich vollkommen hilflos fühlte.
Liebevoll strich er ihr über das Haar. Wie unendlich dankbar Nigel sein musste, dass der Herr seinen Sohn verschont hatte. Ob der junge Kaufmann dafür einen Handel mit Gott eingegangen war, so wie er es seinerzeit selbst getan hatte? »Geh und ruh dich aus!«, sagte er sanft und doch bestimmt. Irgendwann würde sie ihm gestehen, dass sie ein Kind erwartete, und er würde sich entscheiden müssen, was er dann zu tun gedachte. Davonjagen wollte er sie nicht. Sie war zu begnadet, ihre Leidenschaft für sein Handwerk zu außergewöhnlich. Genau darum liebte er nichts mehr als die Arbeit mit ihr. Der tägliche Austausch mit ihr gab ihm Kraft und beflügelte ihn. »Ich komme gleich nach!«, rief er, als sie die Treppe zur Schlafkammer hinaufstieg. Er brauchte noch einen Augenblick für sich allein, bevor er sich zu ihr ins Bett legen und so tun konnte, als ahne er nichts. Nach seiner letzten Rückkehr war ihm sogleich aufgefallen, dass sich etwas verändert hatte. Zuerst hatte er nicht benennen können, was es gewesen war, dann aber hatte er das Leuchten zu deuten gewusst, das von Catlin ausging, sobald sich Flint in der Nähe aufhielt. Seitdem erinnerte die Stimmung in der Gießerei an einen schwülen Sommertag, an dem das Gewitter zu spüren ist, noch bevor die erste Wolke am Himmel aufzieht. Selbst einem Blinden wäre aufgefallen, dass die beiden mehr verband als die Arbeit, so sehr knisterte die Luft zwischen ihnen. Der junge Geselle gab Catlin offenbar genau das, was sie sich ersehnte und John ihr nicht bieten konnte. Er wusste nur allzu gut, wie sehr die Liebe den Menschen veränderte, hatte er selbst doch alles dafür aufgegeben. Er hatte sein Seelenheil aufs Spiel gesetzt, nur um sein Leben mit der Frau zu verbringen, die er über alles geliebt hatte. Für sie und das gemeinsame Kind zu sorgen war wichtiger gewesen, als sein Versprechen einzuhalten. Obwohl eine schiere Ewigkeit vergangen war, seit er sein geliebtes Weib verloren hatte, schnürte es John die Kehle zu.
Als Catlin drei Tage nach Ewes Freitod in die Straße einbog, in der Nigel wohnte, erschrak sie beinahe zu Tode, denn vor seinem Haus standen zwei Pferde, angetan mit den Farben des Königs, ein kleines Fuhrwerk und zwei Bewaffnete, die wichtigtuerisch dreinblickten. O mein Gott, sie haben ihn gefunden!, schoss es Catlin durch den Kopf. Ob Nigel entgegen aller Vernunft erneut stehlen gegangen war? Bei dem Gedanken an die Strafe, welche ihn erwartete, schlug ihr das Herz bis zum Hals, und sie rang nach Atem. Zum Richtplatz würden sie ihn zerren, um ihn dort vor den Augen der ganzen Stadt aufzuknüpfen. Der Pöbel, der einst fröhlich freche Lieder über ihn gesungen hatte, würde ihn mit Schmährufen bedenken und Steine nach ihm werfen. Catlins Knie wurden weich. Die Bilder aus St. Edmundsbury waren noch so deutlich, obwohl seitdem Jahre vergangen waren. Die geschwollenen blauschwarzen Zungen, die aus den Mündern der Verurteilten hervorgequollen waren, die zuckenden Leiber und die eingenässten Bruchen, all das war wieder ganz nahe. Tränen rollten ihr über die Wangen, dann aber stieg plötzlich unbändige Wut in ihr auf. Wie oft hatte sie Nigel gebeten, nein, angefleht, mit dem Stehlen aufzuhören! Aber er hatte unbedingt weitermachen müssen. Ihr Zorn wurde nur noch vom Gefühl tiefer Hilflosigkeit übertroffen. Dennoch kämpfte sie sich entschlossenen Schrittes durch die Menge, um zum Haus zu gelangen.
»Richard?« Catlin wusste nicht, ob sie erleichtert oder erschrocken sein sollte, als sie ihren Vetter im Hauseingang entdeckte.
»Catlin, was tust du hier?« Richard runzelte verwundert die Stirn.
Was sollte sie ihm antworten? Einen Augenblick lang zögerte sie. Gab sie zu, eine Freundin von Nigel zu sein, machte sie sich womöglich der Mitwisserschaft verdächtig. Außerdem wäre Richard sicher wütend, wenn er erführe, dass sie ihm die Freundschaft mit dem allseits gesuchten Dieb verheimlicht hatte. Welche Ausrede sollte sie
Weitere Kostenlose Bücher